Alberschwende: Ein Dorf gegen Dublin

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Nicht jede Gemeinde wehrt sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Im Gegenteil: In Alberschwende kämpfte ein Vorarlberger Dorf für den Verbleib von fünf Männern aus Syrien – mit durchaus kreativen Methoden. Und vor allem: mit Erfolg.

Manchmal stößt Integration auch an körperliche Grenzen. Zumindest, wenn es um Vorarlberger Käse geht: Um den Flüchtlingen in ihrer Gemeinde die kulinarische Tradition näherzubringen, haben Bürger aus Alberschwende einen Ausflug in eine Sennerei organisiert. Nur: Nicht jede Nase kann mit den olfaktorischen Begleiterscheinungen umgehen. Für die syrischen Männer war der Geruch zu viel. Einer von ihnen musste den Ausflug wegen Übelkeit unterbrechen.

Wochen später studiert Roni Abraham die Speisekarte im Gasthaus am Dorfplatz und muss lachen, als er sich an den Tag erinnert. „Mit dem Käse kann man mich echt jagen“, sagt der 23-jährige Flüchtling aus Syrien. Heute bestellt er lieber etwas Ungefährliches. Einen Salat. Und fügt hinzu: Der Käse sei das Einzige, mit dem er hier nichts anfangen könne. „Ich bin Alberschwende dankbar. Hier habe ich begonnen, wieder die Chance auf ein normales Leben zu sehen.“

Abraham ist eigentlich nicht sein richtiger Name. Für diese Zeitung will er sich aber so nennen. Noch ist unklar, ob ihm Österreich Asyl gewährt. Sein Verfahren läuft noch. Bis zu einer Entscheidung bleibt er lieber anonym. Dass sich Österreich überhaupt mit seinem Asylantrag beschäftigt, war ein langer Kampf. Dass er ihn gewonnen hat, verdankt Abraham der Bevölkerung des 3000-Seelen-Dorfs in Vorarlberg, in dem er nun lebt. Und zwei Einwohnern davon ganz besonders: Renée L. und Paul S. wehrten sich ein halbes Jahr lang gegen die Überstellung von Abraham und vier weiteren Flüchtlingen nach Ungarn. Mit durchaus kreativen Methoden. Und vor allem: mit Erfolg.

Aber alles der Reihe nach: Vor eineinhalb Jahren lebt Abraham noch in Syrien, Damaskus. Er steht kurz vor seinem Studienabschluss in Maschinenbau, bekommt das Angebot, ein Auslandssemester in Dresden zu verbringen. Dazu wird es aber nicht kommen.

Zu Fuß nach Serbien

Die Lage in Syrien spitzt sich immer weiter zu. Abraham verkauft seinen Besitz. Beschließt zu fliehen. Sein Ziel ist Norwegen, doch auch daraus wird nichts. Über den Libanon reist er in die Türkei, ein Schlepper bringt ihn auf einem Fischerboot nach Griechenland. Zu Fuß geht es weiter nach Serbien und Ungarn. Dort greift ihn die Polizei auf, ihm werden Fingerabdrücke abgenommen. Das ist der Moment, der ihn viele weitere Monate verfolgen wird.

Denn in Ungarn bleiben, das möchte er auf keinen Fall. Zu schlecht sind die Bedingungen für Flüchtlinge. Der rechtskonservative Ministerpräsident, Viktor Orbán, fährt einen scharfen fremdenfeindlichen Kurs. Abraham versucht weiter, sein Ziel zu erreichen. Dieses Mal ist es die Polizei in Wels, Oberösterreich, die ihm in die Quere kommt. Und den Wagen aufhält, in dem Abraham sitzt. Drei Monate und viele tausend Euro nach seinem Aufbruch in Syrien hat Abrahams Flucht also in Österreich Ende. Zumindest vorerst.

Ein Dublin-Fall

Er kommt nach Traiskirchen, seine Daten werden aufgenommen. 27 Tage lang muss er in dem Erstaufnahmezentrum bleiben. Über seine Erlebnisse vor Ort will er nicht sprechen. Nur so viel: „Das sind 27 Tage, die ich nicht zu meinem Leben zähle.“ Für die Behörden fällt Abraham rasch in eine Kategorie, in der kein Flüchtling landen will: Er ist ein Dublin-Fall. Das erste EU-Land, das ein Flüchtling nachweislich betritt, ist für dessen Asylverfahren zuständig. Abraham soll also zurück nach Ungarn. Der Syrer reicht eine Beschwerde dagegen ein. Daraufhin heißt es warten.

Bis zu einem Jännermorgen. Jemand reißt Abraham aus dem Schlaf. Er soll in einen Bus einsteigen. Wohin es genau geht? Das weiß er nicht. Der Wagen fährt aber nicht nach Budapest. Im Gegenteil: Es geht nach Westen. Zusammen mit den anderen Männer im Wagen bekommt er einen Zettel in die Hand gedrückt, der ihm das Ziel verrät: Vorarlberg. „Vorarlberg? Ich hab nicht gewusst, was das sein soll“, erzählt Abraham. Paul S. sitzt neben ihm und lacht. „Keine Sorge, das passiert auch einigen Wienern“, scherzt er.

Der Bescheid

Dass er sich in Alberschwende wohl fühlen wird, stellt sich bereits am Morgen nach der ersten Nacht im Caritas-Haus heraus. Einige Mädchen bringen den Neuankömmlingen Kuchen vorbei. „Sie haben sich nicht gefürchtet. Da habe ich gewusst: Das ist ein gutes Dorf“, erzählt er.

Das ist dann wohl Ansichtssache. Für das Österreichische Asylamt stellt die Beziehung, die mit der Zeit zwischen den Flüchtlingen und der Gemeinde entsteht, eher eine Hürde dar. Nach und nach überbringt die Behörde Abraham und vier weiteren Landsmännern mit einer ähnlichen Vorgeschichte einen Bescheid. Dieser besagt: Sie sollen damit rechnen, jederzeit nach Ungarn bzw. Italien überstellt zu werden.

Der Verein

An diesem Punkt wird die Erzählung kurz unterbrochen. „Servus Roni!“, ruft ein Mann, kommt an den Tisch und schüttelt dem jungen Syrer die Hand. Wie es ihm gehe? Ob er während des Ramadan gefastet habe? Wann er das nächste Mal vorbeischaue? Rasch stellt sich heraus: Es handelt sich um Peter Mathei, den Pfarrer der Gemeinde. Auch er war an dem Widerstand gegen die Behörden beteiligt. „Mitgefangen, mitgehangen“, wie er es formuliert. „Wenn man einander kennt, eine persönliche Beziehung aufbaut, verwandelt sich der Blick.“ Deswegen wollte er helfen. Und nebenbei: Es gebe schließlich auch so etwas wie die Sünde der Distanz.

Damit seine Gemeinde in dieser Hinsicht gar nicht erst in Versuchung geführt wird, hat Mathei die Flüchtlinge zu Beginn eingeladen, sich während der Messe vorzustellen. „Vor so vielen Menschen habe ich noch nie gesprochen“, sagt Abraham. „Die Kirche war voll. So viele Leute waren noch nie da“, scherzt er.

Die Polizei

Aber zurück zu dem Punkt, als Alberschwende und Abraham klar wird: Die Flüchtlinge müssen gehen. Angelika Schwarzmann (ÖVP), Bürgermeisterin der Gemeinde, gründet mit anderen Sympathisanten die Initiative Wir sind Asyl. Ihr Ziel: die Überstellung zu verhindern. Einerseits auf juristischem Weg: Gemeinsam legen sie erneut Beschwerde dagegen ein. Andererseits durch ziviles Engagement: Eine Telefonkette soll vor den Behörden warnen, sobald sie im Anmarsch sind. Rund 120 Menschen stehen auf der Liste. Auch ein Alarmknopf liegt im Caritas-Haus auf, damit die Syrer im Notfall um Hilfe rufen können. Außerdem wird ein Nachtdienst organisiert – ein Einwohner aus Alberschwende soll immer vor Ort im Flüchtlingsheim sein. Ab und zu werden die jungen Männer auch eingeladen, bei den Einheimischen zu übernachten. Zu groß ist die Angst vor einer Nacht-und-Nebel-Aktion der Behörden.

Ein Glücksspiel

Trotzdem ist es eines Morgens so weit: Die Behörden stehen im Schlafzimmer der Flüchtlinge und verlangen nach ihrem Ausweis. „Es war wie in Syrien. Auch dort sind plötzlich Uniformierte in meinem Haus aufgetaucht und wollten meine Papiere sehen“, erzählt ein Betroffener danach. Die Aktion kommt so überraschend, dass die Telefonkette versagt. Auch der Alarm wird nicht gehört: Die Einwohner, bei denen das Signal ertönt, sind nicht zu Hause. Die Flüchtlinge haben dennoch Glück: Die Behörden wollen nur eine bestimmte Person mitnehmen. Und diese ist zufällig nicht da. Die Aktion wird beendet. Warum sie nicht an den anderen Syrern interessiert waren, weiß Abraham nicht: „In diesem System ist alles ein Glücksspiel.“

Nach diesem Erlebnis wechseln die Flüchtlinge ihre Bleibe – sie ziehen zu Pfarrer Mathei. Vielleicht haben die Behörden vor der Kirche mehr Respekt, überlegt man. Der Schock über den Überstellungsversuch sitzt trotzdem immer noch tief, die Männer wagen sich kaum aus dem Haus. Irgendwo könnten Polizisten lauern. Immer wieder laden sie Einheimische in ihre eigenen vier Wände ein. Abraham übernachtet ab und zu bei Renée L.

Die Feier

Und dort ist er immer noch. Jetzt ganz offiziell. Irgendwann, nach Monaten des Bangens, lief die Frist für die Überstellung nach Ungarn einfach aus. Sechs Monate haben die Behörden Zeit, Dublin-Fälle aus dem Land zu bringen. Ende Juni hat Abraham Gewissheit: Er darf vorerst bleiben. Sein Antrag auf Asyl wird hier behandelt.

„Was haben wir an diesem Tag gefeiert“, erinnert sich Renée L. „Bis um vier Uhr in der Früh.“ Auch an diesem Abend wird noch einmal angestoßen – in den vier Wänden, die man sich nun mit Abraham teilt. „Es ist ein bisschen so, als wären wir eine Familie.“ Die Frau hofft, dass auch andere Österreicher Asylwerbern eine Unterkunft bieten. Doch müsse man sich bewusst sein, was auf einen zukomme. „Es ist nicht immer alles eitel Wonne“, sagt sie. Die Flüchtlinge hätten einiges erlebt – das müssten sie verarbeiten. Man sei nicht nur Freund, Elternersatz oder Betreuer – sondern oft auch Psychotherapeut.

Die Zukunft

Es klingelt, einige andere Flüchtlinge aus dem Dorf sind da. „So sehen viele unserer Abende aus“, sagt Renée L. Einer der Männer, Azad, stellt sich vor. Auch er ist aus Syrien geflüchtet. Und auch er wartet auf seinen Asylbescheid. Für ein Foto zu posieren macht ihm nichts aus. Stellvertretend für seine Landsmänner steht er am nächsten Tag vor der Kamera.

Ein junger Mann in der Runde, ausgebildeter Mathematiker und Übersetzer, ist schon einen Schritt weiter als die anderen: Er hält seinen neuen Pass schon in den Händen und zeigt ihn stolz. Alle Länder dieser Welt darf er damit bereisen. Mit Ausnahme von seiner Heimat: Syrien. Eine Rückkehr ist aber ohnehin nicht geplant. Jetzt will er seine Frau nach Österreich holen. Die Flucht hat er allein auf sich genommen, um ihr eine sichere, legale Anreise zu ermöglichen.

Abraham hofft, selbst auch langfristig in Österreich leben zu können. Zukunftspläne hat er schon: „Arbeiten. Ich möchte niemandem auf der Tasche liegen.“ Die Chancen stehen gut, einen Ausbildungsplatz hat er bereits. Die anderen Syrer suchen aber noch. Das ist dann das nächste Projekt der Gemeinde Alberschwende.

Asylwerber

Bis zu 80.000 Menschen werden laut Prognosen des Innenministeriums in diesem Jahr in Österreich um Asyl ansuchen. 2014 waren es nur rund 28.000 Personen.

Laut der Dublin-III-Verordnung ist das erste EU-Land, das Flüchtlinge betreten, für das Asylverfahren zuständig. Offiziell darf der Schutzsuchende nicht mehr weiterreisen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2015)

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