Aus Ungarns Lagern an die Grenze

(c) Stanislav Jenis
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In Heiligenkreuz im Lafnitztal strandeten am Montag tausende Flüchtlinge. Offenbar wurden sie von Ungarns Behörden gezielt an die Grenze gebracht.

Heiligenkreuz im Lafnitztal. Eigentlich lag das südliche Burgenland bis zum Wochenende nicht auf der bevorzugten Route der Flüchtlinge, die derzeit aus dem Nahen Osten über den Balkan, Ungarn und Österreich vor allem nach Deutschland wollen. Die Ankündigung Berlins am Sonntagnachmittag, zumindest zeitweise wieder Grenzkontrollen einzuführen, hat vieles verändert. Insbesondere das Verhalten Ungarns. Besonders gut zu beobachten war das am Montag rund um den Grenzübergang Heiligenkreuz (Bezirk Jennersdorf).

Zwischen 40 und 50 Flüchtlinge überquerten dort bis zuletzt täglich die Grenze. Am Montag waren es bis Mittag schätzungsweise 4500. Begonnen hat der Zustrom im Schutz der Dunkelheit zwischen zwei und drei Uhr morgens ganz in der Nähe von Heiligenkreuz, in Moschendorf. Einige österreichische Polizisten zeigten sich massiv erstaunt, als auf ungarischer Seite plötzlich mehrere Busse auffuhren, hielten und eine größere Gruppe von Flüchtlingen in Richtung Staatsgrenze entließen. „Für uns sah es so aus, als ob die ungarischen Behörden diese Menschen loswerden wollten“, erzählte wenige Stunden später Polizeisprecher Gerald Koller der „Presse“ in Heiligenkreuz.

Genau dort nämlich hatte die Polizei begonnen, den innerhalb kürzester Zeit stark gestiegenen Zustrom zu konzentrieren und zu organisieren. Letztlich wurden die Menschen weiterverteilt. Eilig installierten die 120 Polizisten, die Verstärkung von Kollegen aus der Steiermark und Tirol bekamen, gemeinsam mit Feuerwehr und Rotem Kreuz ein kleines Logistikzentrum am Stadtrand der 1200-Einwohner-Gemeinde. Auch das Bundesheer machte sich binnen kürzester Zeit mit einer Lieferung von Zelten auf den Weg nach Heiligenkreuz.

Es dauerte ein paar Stunden, bis sich die Lage ab Mittag zumindest ein bisschen entspannte. Zu diesem Zeitpunkt war es den Einsatzkräften nämlich gelungen, einen Bustransfer weg von der Grenze zu installieren. Vergleichsweise ruhig und geordnet wurde die Menschenmenge, die sich bis zu diesem Zeitpunkt innerhalb der aufgestellten Tretgitter angesammelt hatte, kleiner.

Die Strapazen der vorangegangenen Reise waren vielen Flüchtlingen anzusehen. In den Protokollen der Helfer des Roten Kreuzes schlug sich das in zahlreichen Krankentransporten in die nächsten Spitäler nieder. Die meisten Kranken leiden unter Magen-Darm-Problemen oder grippalen Infekten. Eine Frau erlitt eine Fehlgeburt.

Dabei hatte sich unter den meisten derer, die in Heiligenkreuz gestrandet waren, noch gar nicht herumgesprochen, dass es später, an der Grenze zu Deutschland, möglicherweise kein Weiterkommen mehr gibt. Mayan, ein Mann, der aus der syrischen Jihadistenhochburg Raqqa geflüchtet ist, sagte: „Jeder hat einen Traum, Deutschland ist meiner.“ Die Informationen, die von den Flüchtlingen zu bekommen waren, stützten die Theorie der Polizei, dass das plötzliche Auftauchen von so vielen Menschen mit der Räumung von Lagern in Ungarn zu tun haben könnte. Saddam (21) aus Afghanistan berichtete davon, dass man ihn mitten in der Nacht aus seiner Unterkunft in der Nähe der serbischen Grenze geholt und gemeinsam mit anderen zu Bussen gebracht hatte. Nach einer langen Fahrt quer durch das Land war erst kurz vor der österreichischen Grenze Endstation. Man ließ die Leute aussteigen. Saddam sagt: „Was Europa mit den Flüchtlingen macht, ist ein Spiel auf unsere Kosten. Das ist nicht gut.“

Kein Wort über Deutschland

Um die verängstigen Menschen über die nächsten Schritte zu informieren, setzten die Organisatoren der Sammelstelle Dolmetscher ein, die mithilfe von Megafonen in mehreren Sprachen bekannt gaben, dass die wartenden Busse die Flüchtlinge nach Graz bringen. Später erzählten die Dolmetscher, dass sie ausdrücklich die Anweisung hatten, kein Wort darüber zu verlieren, dass der Konvoi – zumindest vorerst – nicht nach Deutschland fuhr. Ziel war es offenbar, so Enttäuschungen und eine weitere Eskalation zu vermeiden.

Das gelang nicht immer. Die Erlebnisse in den ungarischen Flüchtlingslagern waren für viele Betroffene offenbar derart prägend, dass sie eine mögliche zweite Internierung in Österreich unter allen Umständen vermeiden wollten. Immer wieder brachen kleinere Gruppen aus der großen Menschenmenge aus und flüchteten zu Fuß über die Felder ins Landesinnere. In den Dörfern sah man sie dann verloren am Straßenrand stehen, ausgehungert und verzweifelt. Feuerwehrleute verteilten Äpfel an die Ankömmlinge.

Menschen auf der Straße gab es auch beim Grenzübergang Nickelsdorf. Mehr als 7000 Flüchtlinge waren bis zur Mittagszeit hier angekommen. Viele machten sich zu Fuß auf den Weg. Die Ostautobahn musste gesperrt werden. Insgesamt erwartete die Polizei, dass bis zum Abend noch zusätzliche 20.000 Menschen über die Grenze kommen würden. Die Versorgung mit Lebensmitteln wurde von den Helfern weniger als Problem gesehen – allerdings sah man sich mit Schwierigkeiten konfrontiert, weil es nicht genügend Schlafstätten gibt. In Nickelsdorf selbst, hieß es vom Roten Kreuz, habe man nur etwa 10.000 Plätze. Und in Heiligenkreuz würde man mit größeren Menschenmengen überhaupt nicht fertig.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2015)

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