Serbien/ Ungarn: „Gibt es einen anderen Weg nach Wien?“

Ungarische Soldaten patroullieren am Sonntag 13 09 15 am Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien bei
Ungarische Soldaten patroullieren am Sonntag 13 09 15 am Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien bei(c) imago/epd (imago stock&people)
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Bei Flüchtlingen an der serbisch-ungarischen Grenze macht sich Verzweiflung breit. Sie können weder vor noch zurück.

Vergeblich rütteln die Menschen am Gattertor. Nur zwei Meter ist Maher nach seiner 16-tägigen Odyssee aus seiner Heimatstadt, Damaskus, vom scheinbar nahen Ziel der EU entfernt. Doch von dem blauen Schild mit dem Sternenbanner trennt ihn am Grenzübergang Horgos 2 nicht nur Stacheldraht. Stoisch lassen die ungarischen Grenzwächter in den blauen Kampfanzügen die wütenden oder bittenden Zurufe der im Niemandsland zu Serbien ausgesperrten Flüchtlinge über sich ergehen. Seine Freunde hätten in der Nacht die Grenzpassage über die Wälder gewagt – „sie sind jetzt in Wien“, seufzt der schlaksige Student aus Syriens Hauptstadt: „Wir versuchten es auf dem legalen Weg und können nun weder vor noch zurück. Wir sitzen fest.“

„Chaos in Horgos“, vermelden Medien schon am Morgen nach Inkrafttreten von Ungarns Notstandsgesetzen. Rat- und Orientierungslos ziehen lange Kolonnen von Menschen über die nahe Autobahn. Vor einer Containertür im silbern glänzenden Stacheldrahtzaun suchen Hunderte Einlass in eine abgezäunte „Transitzone“. Doch nur wenige werden in unregelmäßigen Abständen an dem sogenannten legalen Zutrittspunkt zur Abnahme von Fingerabdrücken und dem Stellen eines in Ungarn ohnehin aussichtslosen Asylantrags hereingelassen. Innerhalb nur weniger Stunden wurde über 16 Asylanträge entschieden, die alle abgelehnt wurden.

Ungarn plant Grenzzaun zu Rumänien

Die Regierung in Budapest will ihre Maßnahmen sogar noch weiter verschärfen. Am Dienstag stellte der ungarische Außenminister, Péter Szijjártó, klar, dass auch der Bau eines Grenzzauns zu Rumänien vorbereitet werde – für den Fall, dass die Flüchtlinge in Hinkunft über diese Route ausweichen.

In Horgos am Zaun zu Serbien geht das Grenztor einmal kurz auf, dann wird unvermittelt die Autobahn mithilfe beweglicher Tore komplett abgesperrt. Noch sei schwer vorherzusehen, wie die Flüchtlinge auf die praktisch vollständige Abriegelung des Grenzübergangs reagieren werden, sagt der Arzt Johannes Kortmann von der deutschen Hilfsorganisation Humedica: „Die Situation ändert sich ständig.“

Apathie und Wut machen sich auf den verdorrten Maisfeldern und versengten Wiesen rund um die beiden für die Flüchtlinge unüberwindbar gewordenen Grenzübergänge breit. Schon 13 Tage ist der stoppelbärtige Basel mit drei seiner Freunde aus Damaskus in Richtung seiner in Dortmund lebenden Familie unterwegs. Wie es weitergehen soll, wisse er nicht nicht, sagt der Rechtsanwalt im abgezäunten Niemandsland verbittert. „Wir haben kein Geld mehr, jeder hat uns unterwegs abkassiert – und fast all unser Gepäck wurde von Dieben gestohlen. Und nun scheint das unsere neue Heimat zu werden.“

1300 Menschen hatten die Nacht vor den abgeriegelten Grenzgängen verbracht. Doch durch die Neuankömmlinge hat sich ihre Zahl im Lauf des Dienstags bald auf mehrere Tausend erhöht. Belgrad werde keine von Ungarn ins Niemandsland abgeschobenen Flüchtlinge zurücknehmen, hatte Serbiens Sozialminister, Aleksandar Vulin, gewarnt. Doch die meisten der in Horgos Ausgesperrten wollen ohnehin nicht nach Serbien zurück. „Heute warten wir noch ab. Wenn die Grenze zubleibt, versuchen auch wir den illegalen Weg über die Grenze“, sagt Maher.

„Wo sollen wir hin?“

Mehr als 60 Verhaftungen von Flüchtlingen, die den Grenzzaun zerschnitten haben, vermeldet bis Dienstagmittag Ungarns Polizei. An der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien verteilen Helfer bereits Flugblätter mit der Empfehlung, Ungarn zu meiden – und das Glück auf der noch kaum genutzten Westroute über Kroatien und Slowenien nach Österreich zu suchen.

Im Süden der Grenze macht sich Verzweiflung breit. Im Norden auf der ungarischen Seite wird aufgeräumt. Neben den Zäunen des leer gefegten Aufnahmelagers in Röszke sammeln Müllmänner zurückgelassene Zelte und Taschen ein. Plastiktoiletten und Stromaggregate werden auf Laster gewuchtet.

Auch die Hilfsorganisationen brechen ihre Zelte ab. Die meisten ihrer Kleintransporter fahren nach Serbien, andere nach Norden. „Habt ihr schon eine Mitfahrgelegenheit nach Wien?“, fragt eine blonde Helferin ihre Mitstreiter, die sich gerade von ihr verabschieden. Das nur vier Fahrstunden entfernte Österreich ist für die Ausgesperrten im drei Kilometer entfernten Horgos ein sehr fernes Ziel. „Wo sollen wir hin?“, fragt der Syrer Kifa. Zwei Wochen hat der Mann mit seinem Vater unermüdlich Berge, ein Meer und Grenzen überquert. Doch nach dem vergeblichen Marsch über den abgesperrten Schienenstrang weiß der Französischlehrer aus Damaskus nicht mehr weiter: „Gibt es von Serbien noch einen anderen Weg nach Wien? Wie weit ist Slowenien weg?“

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2015)

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