Heinz Fischer : "Menschen nicht nur vor Wahlen ernst nehmen"

Bundespräsident Heinz Fischer in seinen Amtsräumen beim Interview für die „Presse am Sonntag“.
Bundespräsident Heinz Fischer in seinen Amtsräumen beim Interview für die „Presse am Sonntag“.Die Presse
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Die Lehren, die Bundespräsident Heinz Fischer aus den letzten Wahlen zieht.

Gibt es für Sie so etwas wie eine Lehre aus der Wien-Wahl vom vergangenen Sonntag?

Heinz Fischer: Es gibt mehrere Lehren aus der Wien-Wahl. Eine der Lehren ist, dass die Meinungsforschung nur eine Hilfswissenschaft ist. Die zweite Lehre ist, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die dritte Lehre ist, dass klare Haltungen belohnt werden.

Sie meinen die Haltung von Michael Häupl?

Ja.

Eine ähnliche Haltung bezüglich der Flüchtlinge vertritt die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel. Ist das eine Haltung, die man praktisch langfristig durchhalten kann, wenn zu viele Flüchtlinge in das Land kommen?

Das ist natürlich eine ganz, ganz wichtige Frage, die Sie anschneiden. Als Jurist lernt man den Satz: Ultra posse nemo tenetur – Unmögliches kann nicht verlangt werden. Aber momentan sind wir in einer Situation, in der es darum geht: Wie kann man unter den gegebenen Bedingungen die Grundsätze des Asylrechts bestmöglich anwenden? Und wie kann man mitwirken, damit Menschen, die vor existenziell bedrohlichen Verhältnissen fliehen, nicht an verschlossen Türen und an Mangel an Hilfsbereitschaft scheitern? Natürlich kann man sagen: Was machen wir, wenn sich Millionen in Bewegung setzen und in Österreich Asyl haben wollen? So stellt sich die Frage aber nicht. Wir sind verpflichtet, alles zu tun, damit auch in Zukunft keine Flüchtlingswelle entsteht, die so dimensioniert ist, dass man an die Grenzen aller Möglichkeiten stößt. Unter den gegebenen Umständen sind wir verpflichtet, Menschen in Not menschenwürdig zu behandeln. Man muss auch dafür arbeiten, dass es gesamteuropäische Solidarität gibt, und sich auch mit den Sorgen jener Menschen, die alldem ängstlich besorgt gegenüberstehen, auseinandersetzen. Es ist wichtig, in dieser Situation die Gesellschaft nicht zu spalten, sondern sich verantwortungsbewusst und integrativ zu verhalten.


Diese Argumentation kann man von zwei Seiten sehen. Man kann sagen, eine Partei, die mehr Ausländer ablehnt, spaltet die Gesellschaft, aber man könnte auch sagen, jene spalten die Gesellschaft, die mit diesen Wählern am liebsten gar nichts zu tun haben wollen und mit dieser Partei schon gar nicht.

Darauf eine ganz klare Antwort: Mit Wählern, mit Menschen will ich immer zu tun haben, auch wenn sie Meinungen vertreten, die ich nicht teilen kann. Ich darf auch an einen Passus meiner Rede auf dem Heldenplatz bei „Voices for Refugees“ erinnern. Ich habe gesagt: „Ich wende mich nicht von jenen Menschen ab, die Angst haben vor sehr vielen Flüchtlingen und sich Sorgen machen, aber ich wende mich von jenen ab, die aus dieser Angst wirtschaftlichen oder politischen Nutzen ziehen wollen.“ Die Sorgen müssen wir ernst nehmen.

Wie kann man die Sorgen der Menschen nun ernst nehmen? Das ist ja offenbar seit 1986 nicht wirklich gelungen.

Der Hinweis auf die letzten 30 Jahre ist insofern sehr interessant, weil man damals Zustände als Horrorszenarien beschrieben hat, die sich inzwischen als bewältigbar erwiesen haben. Es hat sich herausgestellt, dass Österreich ein Land ist, das Menschen integrieren kann. Das heißt nicht, dass man an alle Zahlen eine Null oder eine zweite Null hängen kann. Man kann nicht alles bewältigen. Man muss bemüht sein, die Belastungen in vernünftigen und für die Menschen einsehbaren Grenzen zu halten, damit man damit zurechtkommt und damit daraus nicht unberechenbare Reaktionen entstehen können.

Müssten da nicht auch Grenzen formuliert werden? Oder halten Sie das für ein Tabu?

Nein, es ist kein Tabu. Aber es ist ein Beispiel dafür, dass Grenzen nicht in absoluten Zahlen gezogen werden können. Das sind Grenzen, die auch von den Rahmenbedingungen abhängen. Das Asylrecht ist kein Recht, das man von vornherein quantitativ begrenzen kann.


Ist nicht eine gewisse Entfremdung eines Teils der Bevölkerung zu dem zu konstatieren, was man Elite oder politische Entscheidungsträger nennt?

Ich fürchte, das ist eine berechtigte Frage. Daher wiederhole ich: Eine der Lehren des Wahlsonntags und auch früherer Wahlsonntage ist, dass man Menschen nicht nur knapp vor Wahlen ernst nehmen und auf deren Befürchtungen und Meinungen argumentativ eingehen muss, sondern permanent.

An wen genau richtet sich dieser Appell? Ich nehme an, auch an die Bundesregierung.

Natürlich, ich nehme niemanden aus.

Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der Innenministerin?

Sie hat eine sehr, sehr schwierige Aufgabe. Da ich mich bemühe, ein positiver und konstruktiver Faktor zu sein, tue ich das nicht, indem ich mich jenen anschließe, die in Bezug auf die Frau Innenministerin den Daumen nach unten halten, sondern indem ich sie so gut ich kann unterstütze. In Wirklichkeit ist die gesamte Regierung derzeit gefordert. Aber die Innenministerin ist in der Flüchtlingsfrage so etwas wie der Blitzableiter auf dem Dach, bei dem der Blitz als Erstes einschlägt.

Ist es nicht rechtsstaatlich problematisch und erfüllt es Sie daher nicht mit Sorge, dass so gut wie alle Flüchtlinge im Grunde illegal in Österreich sind, weil sie laut geltender Rechtslage aus sicheren Drittstaaten kommen und gar nicht die Möglichkeit hätten, hier einen Asylantrag zu stellen?

Das ist tatsächlich ein großes Problem, aber ein Problem, das seine Wurzeln nicht in Österreich hat. Wenn die Erstaufnahmestaaten der Europäischen Union beim Registrieren und Prüfen der Flüchtlinge – aus welchen Gründen auch immer – nicht zurande kommen, dann kann das von Österreich allein nicht repariert und saniert werden. Nicht einmal Deutschland kann das an der österreichisch-deutschen Grenze, und erst recht nicht das viel kleinere Österreich. Die Gegenfrage lautet daher: Welche realistischen Möglichkeiten hat Österreich? Einen hohen Zaun mit Stacheldraht zu bauen und das Bundesheer an der Grenze zu bewaffnen – also auf einen Eisernen Vorhang aus früheren Zeiten zurückzugreifen – wäre keine Alternative, die man empfehlen kann. Es gilt, ein Optimum zu schaffen aus den Komponenten Rechtslage, Humanität und gerechte Lastenverteilung. Besonders wichtig ist aber auch, die Wurzeln dieser Entwicklungen, die außerhalb Europas liegen, nicht aus den Augen zu verlieren. Und wenn man das alles berücksichtigt und Ernst macht mit großen Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen, dann bewegt man sich in die bestmögliche Richtung.


Täglich gelangen von der Öffentlichkeit teilweise unbemerkt noch immer tausende Flüchtlinge nach Österreich.

Die Anforderungen in den nächsten Monaten werden nicht geringer sein als in den vergangenen Monaten. Man muss alle Möglichkeiten nützen, um menschenwürdige Lösungen zu finden. Aber es muss eine saubere Flüchtlingspolitik sein, die ein Sensorium für Menschen in Not hat.


Wäre nicht ein Merkmal sauberer Flüchtlingspolitik, klar zwischen Asylsuchenden und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden?

Sie haben recht, was den Grenzübertritt betrifft. Aber in weiterer Folge müssen diejenigen, die unser Land nicht gleich wieder verlassen, einen Asylantrag stellen, und dann wird sehr wohl sorgfältig geprüft, ob ein Asylgrund vorliegt.


Aus München werden die Rufe immer lauter, keine Flüchtlinge mehr aus Österreich zu schicken, und in Berlin werden im Grenzraum Transitzonen mit Asylschnellverfahren überlegt. Ist das ein probates Mittel?

Ich kenne diesbezüglich bisher nur die Medienberichte. Aber ich appelliere an die österreichische und die deutsche Regierung, in dieser wichtigen und sensiblen Frage ein Maximum an Zusammenarbeit zu praktizieren.

Noch eine Frage abseits des Flüchtlingsthemas: Wie hat Ihnen die erste Budgetrede des Finanzministers inhaltlich gefallen?

Die Budgetrede war keine emotional mitreißende Rede, aber es war eine informative Rede und eine Rede, in der mit sichtbarem Bemühen um Ehrlichkeit Stärken und Schwächen der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Situation Österreichs dargestellt wurden.

In Österreich gibt es die einen, die einen großen Reformbedarf sehen, das Land anders und kostengünstiger aufzustellen, und die anderen, die sagen: Drehen wir lieber an den kleinen Schrauben, und es wird auch funktionieren. Unter Letzteren finden sich nicht wenige Sozialdemokraten.

Wir müssen sowohl an großen als auch an kleinen Schrauben drehen. Und wichtig ist nicht, was die einen oder die anderen sagen, sondern was alle gemeinsam tun, und dass an den richtigen Schrauben gedreht wird.

Das gemeinsame Tun wäre ausbaufähig.

Ja, es gibt einen beträchtlichen Reformbedarf.

In welchen Bereichen konkret?

Sie kennen doch die vielen Themen, die uns Sorge machen, die nach Reformen verlangen, Unbehagen auslösen. Aber es wäre meines Erachtens eine naive und kurzsichtige Betrachtungsweise, für alle Probleme, Schwierigkeiten und Unzukömmlichkeiten nur Regierung und Parlament verantwortlich zu machen. Wir leben in einer komplizierten Zeit tief greifender gesellschaftlicher, technologischer und ökologischer Umwälzungen. Viele Fragen, die sich daraus ergeben, sind nicht nur in Österreich, sondern europaweit und weltweit noch nicht befriedigend gelöst und beantwortet. Es gibt Gewinner und Verlierer dieser Entwicklungen. Die Verlierer sind verunsichert und unzufrieden. Die Gewinner halten zäh an ihren Vorteilen fest und stellen sich neuen Lösungen entgegen. Das ist eines der zentralen Probleme in praktisch allen europäischen Staaten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)

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