Gehörlos im Parlament: „Tu so, als könntest du hören“

(c) APA (Robert Jäger)
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Im Alter von zwei Jahren verlor die Wienerin Helene Jarmer bei einem Autounfall ihr Gehör. Knapp 35 Jahre später ist die Grüne die erste gehörlose Abgeordnete im österreichischen Nationalrat.

Vielleicht war es genau dieser Satz, der Helene Jarmer schon damals den Weg in Richtung Politik geebnet hat: „Tu einfach so, als könntest du hören“, haben ihr ihre Eltern gesagt. Nicht aus Scham, sondern um für die Tochter einen Platz in einer Wiener Schule für Schwerhörige zu erkämpfen. Und um ihr auf diese Weise die Gehörlosenschule – eine Ausbildung „unter jedem Niveau“ – zu ersparen. „Wenn sie hinter dir stehen, dann testen sie dich, ob du sie hörst“, haben ihr die Eltern, beide selbst gehörlos, am Weg in die Direktion eingebläut. Das Mädchen spielte mit, die Finte gelang.

Heute, knapp 30 Jahre später, muss Helene Jarmer nicht mehr so tun, als könne sie hören. Und sie will es auch nicht. Die 37-Jährige folgt am Freitag der grünen EU-Kandidatin Ulrike Lunacek in den Nationalrat nach – und ist damit die erste gehörlose österreichische Abgeordnete. Jarmer ist eine auffällige Persönlichkeit, groß und gut gekleidet. Auf dem Weg durch die Gänge des Parlaments tippt sie in ihren Communicator, einen ständigen Begleiter in einer Welt, in der das meiste über Telefon läuft. Einige Schritte hinter ihr folgt Isabella Rausch. Bei offiziellen Parlamentsterminen, Sitzungen und Interviews ist die Gebärdendolmetscherin oder eine Kollegin immer mit dabei.

Eine Geschichte wie in Hollywood

Um wen es bei dem Termin geht, stellt Jarmer dennoch gleich klar. Auf dem Foto will sie alleine abgebildet sein, während des Gesprächs sitzt die Dolmetscherin am Rande des Blickfelds des Interviewers. Eine ungewöhnliche Situation, kommt die Stimme doch quasi aus der „falschen“ Richtung. Nur ob das Gespräch aufgezeichnet wird, das ist Jarmer egal. „Ist ja nicht meine Stimme. Fragen Sie die Dolmetscherin.“

Jarmers Lebensgeschichte ist ungewöhnlich. „Manche nennen es Schicksal“, sagt sie und lacht. Denn eigentlich war die Wienerin, Tochter gehörloser Eltern, gar nicht von Geburt an ohne Gehör. Verloren hat sie dieses bei einem Autounfall, im Alter von zwei Jahren. „So was passiert sonst nur in Hollywoodfilmen“, habe ein Freund einmal zu ihr gesagt. Jarmer selbst sieht ihre Einschränkung mittlerweile als Chance. „Wer weiß, wo ich sonst heute wäre. Vielleicht hätte ich eine ganz andere Karriere eingeschlagen.“

Nach der Aufnahme in die Schwerhörigenschule machte Jarmer damals ihren Weg. Die Oberstufe besuchte sie in einer Regelschule, die Lehrer waren auf ihre Bedürfnisse nicht eingestellt. Der Unterricht, der habe ihr „gar nichts gebracht. Ich habe genau null verstanden.“ Gefördert haben sie vor allem ihre Eltern. Die Mutter lernte zu Hause mit der Tochter, ließ sie Aufsätze und Zusammenfassungen schreiben. Dass das private Umfeld ebenfalls gehörlos war, sei damals regelrecht ein Vorteil gewesen. „Meine Familie wusste genau, was richtig ist für mich.“

In der Gesellschaft hingegen hatten es „Taubstumme“ – ein Ausdruck, der heute verpönt ist („Es gibt Wörter, die sind einfach gestrichen. Sie sagen ja auch nicht Neger.“) – schwer. Wer auf der Straße die Gebärdensprache verwendete, wurde verspottet. „Ich habe meine Mutter oft angefleht, nicht mit mir in der Öffentlichkeit zu reden.“ Bis heute habe sich die Einstellung der Menschen langsam verbessert. Mangeln würde es in erster Linie an den Institutionen, so Jarmer: „Das Schulsystem ist im Bereich Gehörlose desolat.“

Gehörlose können nicht lesen

Jarmer spricht dabei aus Erfahrung. Bevor sie in die Politik eingestiegen ist, machte sie die Ausbildung zur Gehörlosenlehrerin, seit 2001 ist Jarmer auch Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbunds – ein Amt, das sie auch in Zukunft behalten will. Bei ihrer Arbeit mit Kindern sei ihr aufgefallen, „dass viele gar nicht lesen oder schreiben können, weil sie auch von den Eltern nicht ordentlich gefördert werden“.

Zu wenig Förderung – für Jarmer ein generelles Problem in Österreich: Im internationalen Vergleich liege das Land bei den Angeboten für Gehörlose weit zurück. Vor allem die skandinavischen Länder, Kanada und die USA seien viel weiter. Ein Vergleich: Von den 10.000 gehörlosen Menschen in Österreich haben rund 30 einen Uni–Abschluss. In Schweden gebe es bei ebenfalls 10.000 etwa 1000 Absolventen.

Es sind Themen wie diese, denen sich Jarmer als grüne Behindertensprecherin widmen will: Bessere Bildung durch gemeinsamen, gebärdenunterstützten Unterricht, wirksame Gleichstellungsgesetze und eine spezielle Telefonvermittlung für Hörgeschädigte. Damit dann endlich auch Gehörlose vollwertige Mitglieder der Gesellschaft sein könnten. So wie sie im Nationalrat: „Ich erwarte mir, dass ich dort meinen vollen Beitrag leisten kann.“ Ganz ohne Finten, dieses Mal.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2009)

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