Im französischen Kino lohnt sich Verbrechen

Jeanne Moreau
Jeanne Moreau(c) Filmmuseum
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Zum Saisonauftakt dokumentiert das Filmmuseum die Entwicklung des Kriminalfilms in Frankreich von 1958 bis 2009: „Wahl der Waffen“ reicht von Klassikern wie Godards „Außer Atem“ bis zur Avantgarde wie Bessons „Nikita“.

Der Kriminalfilm ist nicht totzukriegen. Solange es Gesetz und Gesellschaft gibt, wird er deren Grauzonen ausloten, Recht und Unrecht ins Dämmerlicht setzen, die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen und neu austarieren. Dass Frankreich eine besonders reichhaltige Krimitradition hat, ist bekannt. Die Gattungsbezeichnung „Polar“ – ein Kompositum aus den französischen Begriffen für Exekutive („police“) und Gaunersprache („argot“) – steht für alles, was dort in der Literatur und auf der Leinwand mit Verbrechen und Strafe zu tun hat. Die Popularität des Genres blieb lange ungebrochen – im Jahr 1981 etwa konnte ein Viertel der gesamten Filmproduktion Frankreichs dem Polar zugerechnet werden.

Doch die Bilderstürmer der Nouvelle Vague und ihr radikales Dekonstruktionsprogramm haben den filmhistorischen Blick ab den Sechzigern so in Beschlag genommen, dass viele spätere Polar-Perlen in Vergessenheit gerieten – dabei waren Godard, Truffaut und Co. vom Genre inspiriert und haben zu dessen Weiterentwicklung beigetragen. „Wahl der Waffen“, die Eröffnungsschau der neuen Saison des österreichischen Filmmuseums – der letzten unter der Leitung von Alexander Horwath –, setzt die Spurensuche der vergangenen Herbst gezeigten „Noir/Polar“-Retrospektive fort und dokumentiert die Mutationen und Evolutionen des französischen Kriminalfilms von 1958 bis 2009.

Unerbittliche Schicksalsmaschinerie

Dabei fällt vor allem eines auf: Es geht immer noch härter, noch kälter, noch fatalistischer. Das klassische Muster von Normverletzung und Ahndung ist in dieser Schau die absolute Ausnahmeerscheinung. Bezeichnend ist das sich zunehmend abstrahierende Werk des Gangsterfilmgotts Jean-Pierre Melville: Seine mythischen Trenchcoatträger stecken in einer unerbittlichen Schicksalsmaschinerie, der Tod gerät für Alain Delons wortkarge Figur in „Der eiskalte Engel“ zum letztmöglichen Triumph. Vertrauen ist eine Illusion: „Wenn man zu zweit ist, gibt es einen Verräter“, sagte der von seiner Résistance-Zeit geprägte Regisseur in einem Interview.

Die Unabhängigkeit Melvilles als Filmemacher war Vorbild für die Nouvelle Vague. In ihrer Initialzündung, Jean-Luc Godards „Außer Atem“, hat er sogar einen Gastauftritt. Stilistisch schlugen die jungen Wilden aber andere Wege ein: François Truffaut schuf verspielte Hommagen an Hitchcock („Die Braut trug schwarz“, mit Jeanne Moreau als rächende Witwe) und den US-amerikanischen Film noir („Schießen Sie auf den Pianisten“), während Claude Chabrol es sich zur Aufgabe machte, die Fäulnis hinter den Fassaden des Bürgertums ans Licht zu bringen („Der Schlachter“, „Das Biest muss sterben“).

„Außer Atem“ – nominell ein Genrestück – verdankt der Polar auch die Entdeckung Jean-Paul Belmondos. Melville soll gesagt haben, im Kriminalfilm der Siebziger gäbe es nur zwei Formate – Belmondo und Delon. Ersterer war dank seiner markanten Gesichtszüge und seinem schroffen Charisma wie geschaffen für die Darstellung draufgängerischer Macho-Bullen und reüssierte kommerziell vor allem in actionreichen Polizeifilmen wie „Angst über der Stadt“. Delon hingegen spielte seit seiner Durchbruchsrolle als amoralischer Parvenü Tom Ripley in René Cléments Patricia-Highsmith-Adaption „Nur die Sonne war Zeuge“ überwiegend introvertierte Figuren, seine Schönheit wurde immer mehr zu einer harten Schale.

Kompromisslose Schwarzmalereien

Abseits der Starvehikel erstarkte nach 1968 – befeuert durch den Verlust politischer Utopien – die explizit sozialkritische Traditionslinie des Polar. Besonders Yves Boisset ging in seinen angriffigen Thrillern hart mit der Grande Nation und ihren Institutionen ins Gericht: In „Un condé“ fungiert die blindwütige Vendetta eines skrupellosen Polizisten als Sinnbild einer verfallenen Rechtsstaatlichkeit – der damalige Innenminister bemühte sich (vergeblich) um ein Verbot des Films. Später bezog sich Boisset immer wieder auf reale Polit-Skandale und ließ seine einsamen Helden im konspirativen Korruptionssumpf versinken. Kompromisslose Schwarzmalereien wie „Le Juge Fayard dit Le Shériff“ sind Zeugnisse vom „Verfolgungswahn einer Gesellschaft auf dem Weg zum Überwachungsstaat“, wie es Filmhistoriker Hans Gerhold formuliert. Autorenfilm-Einzelgänger Jean-Pierre Mocky setzte indes auf anarcho-romantische Gesten, um den herrschenden Verhältnissen den Stinkefinger zu zeigen: Im fantastischen Finale von „L'Albatros“ gibt sich ein von der Polizei Umzingelter noch einem letzten Liebesakt hin, seine Häscher starren neidisch auf die kopulierenden Silhouetten.

Anders äußert sich die soziale Desillusionierung in der Jim-Thompson-Verfilmung „Série noire“ von Alain Corneau, einem der letzten großen Polar-Meister. Darin zerschellen die Selbstverwirklichungsfantasien eines psychotischen Vertreters (ein Ereignis: Patrick Dewaere) an der unwirtlichen Wirklichkeit im Ödland der Banlieue. Später versuchte Corneau in „Wahl der Waffen“, die Schicksalsschwere Melvilles mit stilisiertem Naturalismus – und Gérard Depardieus wilder Schauspielwucht – kurzzuschließen. Je mehr der klassische Kriminalfilm an Bedeutung verlor, desto deutlicher wurde sein Einfluss: Polar-Versatzstücke finden sich in exaltierten Kunstexplosionen eines Leos Carax („Mauvais sang“) ebenso wie in Pop-Unterhaltung à la Luc Besson („Nikita“). Und der auf Gangstermelodramen fußende Aufstieg eines Regisseurs wie Jacques Audiard in das Arthaus-Pantheon belegt: Im französischen Kino lohnt sich Verbrechen immer noch.

Im Filmmuseum: Bis 12. Oktober; www.filmmuseum.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2016)

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