Die DDR: Wie das deutsche kommunistische Experiment 1989/90 an sich selbst zugrunde ging. Ein System, das auf Zwang, Terror, Angst und Bespitzelung gründet, muss letztlich scheitern, wie die Geschichte weist.
Berlin. Das hochoffizielle Schreiben, mit dem Briefkopf der DDR-Einheitspartei SED versehen, datiert vom 16. August 1989. Die Versorgungslage der Deutschen Demokratischen Republik war schon derart verzweifelt, dass sich ein Ende des realsozialistischen Experiments abzeichnete. Bald danach sollte es so weit sein:
„Genossen Günter Kleiber
Mitglied des Politbüros, 1. Stv.
des Vorsitzenden des Ministerrates,
Klosterstr. 47, 1020 Berlin.
Betr.: Damenschlüpfer zum Selbstnähen
Lieber Günter!
Anbei möchte ich Dir genauere Angaben schicken, wer vor einem Jahr die glorreiche Idee hatte, über den DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Anm.) das Selbstnähen von Damenschlüpfern zu organisieren.
Es war der Betrieb Wirkwaren Emminat Cranzahl/Erzgebirge. Er gehört zum Kombinat Trikotagen Karl-Marx-Stadt. Mustervorgaben mit zugeschnittenen Schlüpfern und allem Zubehör sowie einer Nähanleitung erhielten nach unserer Übersicht der DFD im Bezirk Halle, Neubrandenburg, Cottbus, Magdeburg, Dresden, Suhl und Berlin.
Nachdem uns die Dinge zu Ohren gekommen waren, wurde die Abteilung Leichtindustrie informiert ... dass der Absatzleiter des Betriebes sofort aufhört mit der Weiterführung dieser Kampagne.
Trotz Bemühungen des DFD war kein Exemplar eines zugeschnittenen Schlüpfers mit Nähanleitung mehr aufzutreiben, sonst hätte ich Dir schon gestern die dargelegten Angaben zukommen lassen.
In alter Frische, Inge Lange“
In alter Frische also. Das über 1100 Seiten umfassende Werk Klaus Schroeders ist die informativste und detaillierteste Darstellung des zweiten deutschen Staates, der von 1949 bis 1990 existierte. Nicht nur die Funktionsweise dieses kommunistischen Regimes, verschärft durch deutsche Gründlichkeit, wird dargestellt, es ist auch eine Fundgrube durch das ausführliche Personenregister und die Zeittafeln.
Warum brach dieses waffenmäßig hochgerüstete Gebilde sang- und klanglos zusammen, obwohl es ein Geheimdienst- und Spitzelsystem aufgebaut hatte, das seinesgleichen in Europa suchte? Schroeder: „In dem Augenblick, als die neue SED-Führung öffentliche Artikulation regimekritischer Meinungen zuließ und die sowjetische Führungsmacht auf eine bewaffnete Intervention verzichtete, war es um den SED-Staat geschehen.“
Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, hatte also insofern logisch gehandelt, als er jeden DDR-Bürger akribisch überwachen ließ. Als die Kritik und die Unzufriedenheit aber derart zunahmen, dass die Menschen auf die Straße gingen, fehlte es ihm an Strafsanktionen, um den Aufruhr mit Waffengewalt niederzuwalzen.
Es fehlte die Waffengewalt
Anders gesagt: Die Erbsünde bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war das totalitäre System. Ein umfassender Versorgungs- und Überwachungsstaat muss stürzen, wenn er auf die Gewaltanwendung verzichten muss.
Offen bleibt jedoch weiter, warum die Machthaber 1989 auf den Einsatz von Gewalt verzichteten. Schroeder meint, aus Resignation. „Es war ganz sicher nicht der immer wieder behauptete, aber nie unter Beweis gestellte humanistische Geist der Machthaber und ihrer Verantwortungsträger... Entscheidend aber dürfte das Wissen gewesen sein, dass die Rote Armee nicht erneut zu ihrem Schutz ausrücken würde.“ Und dieses historische Verdienst anzuerkennen gebührt Michail Gorbatschow.
Klaus Schroeder
Der SED-Staat
Böhlau-Verlag, 1134 Seiten, 82,20 Euro.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2013)