Ludwig Wittgenstein: »Jetzt weiß ich, dass wir hin sind!«

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Im Ersten Weltkrieg meldete sich Ludwig Wittgenstein freiwillig als Soldat. Bei seinem Einsatz reifte das berühmteste Werk des Denkers – die »Logisch-philosophische Abhandlung«.

Im Großen Krieg von 1914 bis 1918 starben an die 15 Millionen Menschen. In Retrospektive scheint es unverständlich, dass jemand bei Sinnen dieses Schlachten begrüßen konnte. Und doch haben sich gerade auch Dichter und Denker in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach ihm gesehnt. Eine Befreiung vom faulen Frieden sollte es werden, eine notwendige Reinigung. Expressionisten wie Georg Heym und Ernst Stadler beschworen den Krieg bereits Jahre zuvor in prophetisch wirkenden Gedichten.

Stadler zählte zu den Opfern, so wie Alfred Liechtenstein und Rupert Brooke oder Wilfred Owen. Jene, die den Krieg anfangs verherrlichten, starben ebenso wie jene, die später seine Schrecken beschrieben. Für die Lyrik war es eine produktive Zeit. Zynisch sorgten die Regierungen dafür, dass Gedichte zu einem wichtigen Teil der Propaganda wurden. Kriegsgedichte waren in Deutschland wie auch in Großbritannien, Italien oder Frankreich für Verleger ein gutes Geschäft.

Die meisten aber, die 1914 nach Jahren nervöser Aufrüstung den Kampf wollten, zur Flucht aus der Dekadenz drängten, dachten an eine kurze Konfrontation. Bis Weihnachten sollte der Waffengang spätestens vorbei sein.

„Vor dem Tod Aug in Auge“. Auch der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) suchte offenbar Heilung durch den Krieg, wie einige der zum Teil verschlüsselten Passagen seiner Kriegstagebücher laut seinem Biografen Ray Monk vermuten lassen: „Jetzt wäre mir Gelegenheit gegeben, ein anständiger Mensch zu sein, denn ich stehe vor dem Tod Aug in Auge.“

Da war Wittgenstein bereits an der Front. Am Tag nach Österreichs Kriegserklärung an Russland rückte er am 7. August 1914 ein, als Soldat bei einem Artillerieregiment nahe Krakau. Zwei Tage später empfindet er gar Vorfreude: „Werde ich jetzt arbeiten können??! Bin gespannt auf mein kommendes Leben.“ Wittgenstein, der anfangs auf der Weichsel seinen Patrouillendienst auf der „Goplana“ versah, bezog sich dabei wohl auf das Denken.
Er hatte den Entwurf seines berühmtesten Werks im Gepäck, der „Logisch-philosophischen Abhandlung“, die als „Tractatus“ zu einem der einflussreichsten Bücher der Philosophie wurde. Bereits im September 1914 hatte er die für den „Tractatus“ wesentliche „Abbildtheorie der Sprache“ beschrieben. Seine Tagebucheintragung: „Im Satz wird eine Welt probeweise zusammengestellt.“

„Die beste Rasse“. Ein seltsamer Kontrast zu seiner Euphorie, die geradezu religiöse Züge trägt, ist die nüchterne Einschätzung des Kriegsendes. Wittgenstein war laut Monk von Anfang an pessimistisch. Als es hieß, die Russen hätten Lemberg eingenommen (und dazu noch das falsche Gerücht aufkam, die Deutschen seien bereits in Paris), schrieb er: „Jetzt weiß ich, dass wir hin sind!“ Die Engländer, „die beste Rasse der Welt“, könnten nicht verlieren. „Wir aber können verlieren und werden verlieren, wenn nicht in diesem Jahr, so im nächsten! Der Gedanke, dass unsere Rasse geschlagen werden soll, deprimiert mich furchtbar, denn ich bin ganz und gar deutsch!“, meinte er am 25. Oktober 1914. Das schreibt ein Außenseiter, dem die Kameraden aus allen Völkern der Monarchie wie ein „Gaunerpack“ vorkamen. Wittgenstein fühlte sich verlassen, vermisste die Freunde, dachte an Selbstmord. Todessehnsucht und Pflichtgefühl gingen eine seltsame Allianz ein. Damals las er Leo Tolstois Bearbeitung der Evangelien – sein Trostbuch.

Mit den Briten aber, denen sich Wittgenstein seit dem Studium in Cambridge (1911–1913) verbunden fühlte, hielt er Kontakt. Nur kurz hatte er sich, wie sein Lehrer Bertrand Russell (1872–1970) in einer Anekdote erwähnte, entfremdet, weil sie nun Feinde waren. Bald gab es wieder freundschaftlichen Austausch – über Sprachphilosophie. Im Mai 1915 schrieb ihm Russell, der das Genie des Österreichers erkannt hatte und nach dem Krieg wesentlich zur Veröffentlichung des „Tractatus“ beitrug: „Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Du mir nach dem Krieg alles mündlich erklären wirst.“ Er selbst könne seit Kriegsbeginn nichts Philosophisches mehr denken.

Der Ko-Autor der „Principia Mathematica“ und Verfasser fünf Dutzend weiterer Bücher hatte sich als einer der wenigen Intellektuellen ganz dem Frieden verschrieben. Er setzte sich aktiv für die Verweigerung des Kriegsdienstes ein, erhielt dafür eine Geldstrafe, verlor die Professur in Cambridge und musste schließlich sogar für sechs Monate ins Gefängnis. Selbst später noch, als Wittgenstein längst wieder mit ihm ausgesöhnt war, sah dieser Russells Pazifismus mit Skepsis, wenn nicht gar mit Herablassung. Russell hingegen nahm den Kriegseinsatz des genialen Schülers, der sein Buch „offenbar im Schützengraben“ geschrieben habe, gelassen: „Er war von jener Sorte, die niemals Kleinigkeiten wie explodierende Granaten bemerkt hätte, wenn er gerade über Logik nachdachte“, schreibt Russell in der Autobiografie.

Trakls Ende. Ein Mangel an Gefühl? Wie viel Empathie Wittgenstein besaß, zeigte er kurz vor dem Krieg, als er dem Herausgeber des „Brenner“ 100.000 Kronen anbot, die er unbemittelten österreichischen Künstlern geben sollte. Einer der Nutznießer war der Dichter Georg Trakl, der bereits vor 1914 visionäre Gedichte über den Krieg verfasst hatte. Beinahe noch hätten sie sich kennengelernt. Trakl, der die Schlacht von Grodek als Helfer im Lazarett traumatisch erlebt und in seinem letzten Poem verarbeitet hatte, wurde in Krakau psychiatrisch behandelt. Von dort schrieb er dem Gönner und bat um ein Gespräch. Wittgenstein freute sich darauf: „Wie gern möchte ich ihn kennenlernen.“ Er brauche einen Menschen, mit dem er sich ausreden könne. Das Schiff traf am 5. November 1914 in der Stadt ein. Trakl war seit zwei Tagen tot.   

August 1914

Ludwig Wittgenstein meldet sich freiwillig zur Artillerie. 1916 wird er Offizier, 1918 gerät er in italienische Kriegsgefangenschaft. Während des Krieges schreibt er am „Tractatus“.

Bertrand Russell, der Mentor Wittgensteins, engagiert sich für den Frieden, propagiert die Verweigerung des Kriegsdienstes. Die Universität Cambridge entzieht ihm die Professur. Er kommt 1916 in Haft.

Georg Trakl wird bei Kriegsausbruch als Militärapotheker ins Heer einberufen. Er macht die Schlacht bei Grodek mit, schreibt darüber sein letztes Gedicht. Am 3. 11. 1914 stirbt er an einer Überdosis Kokain.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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