Baltikum: Die magische Stunde vor der Freiheit

(c) Reuters (Ints Kalnins)
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Vor 20 Jahren bildeten zwei Millionen Menschen eine Kette, um gegen die Sowjetbesatzung der baltischen Republiken zu demonstrieren. Die Eintracht verflog schnell.

TALLINN. Auf dem Weg zum Langen Hermann kommt für Marina Iwanowa die Erinnerung zurück. Hier, an der Festung in Tallinn, hat damals, vor 20 Jahren, jene Menschenkette ihren Anfang genommen, die sich quer durch die drei baltischen Republiken 600 km weit bis zum Gediminas-Turm im litauischen Vilnius erstreckte. Marina war ein Teil von ihr: eine von zwei Millionen. Aber auch sie trug dazu bei, dass der „baltische Weg“ eine einzigartige Demonstration des Freiheitswillens der von der Sowjetunion besetzten baltischen Völker wurde.

„Da standen die Menschen“, erinnert sie sich, „ich sah ihre Gesichter: das waren keine Nationalisten, wie die Sowjetpresse schrieb. Das war das Volk.“ So stellte sich Marina, die Russin, die als Lehrerin an einer vor allem von sowjetischen Militärkadern frequentierten Schule unterrichtete, in die Reihe mit ihren estnischen Nachbarn, und als ein Fernsehreporter ihr ein Mikrofon hinhielt, sagte sie spontan in die Kamera, was sie fühlte: dass alle Völker ein Recht auf Selbstbestimmung haben sollten und dass die Sowjetunion sich entschuldigen müsse für das Unrecht, das den Balten angetan worden war.

Es war der 23.August 1989, der 50.Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes, in dessen geheimen Zusatzprotokollen Hitler-Deutschland und die Sowjetunion Europa aufgeteilt und das Baltikum dem Stalin-Reich zugeschlagen hatten. Am Abend war Marinas Statement in den Nachrichten. Am nächsten Morgen kam die Mutter eines ihrer Schüler zu ihr, mit Blumen. Doch die Schulleitung sagte, dass die Eltern klagten: „So eine Lehrerin können wir hier nicht haben.“ Gorbatschows Perestroika hatte die Diskussion über die Vergangenheit und die Okkupation eröffnet. Doch den Balten verwehrte er das Recht auf Selbstbestimmung.

Es war die Zeit des Umbruchs. In Klubs debattierten mutige Vorreiter in neuer Offenheit brisante Fragen, prangerten die Umweltzerstörung an, die Russifizierung der baltischen Länder. Liederfeste, die dem Freiheitskampf der Balten den Namen „singende Revolution“ gaben, stärkten die nationalen Wurzeln. Aus den Debattierklubs wurden Volksfronten, die erst der Unterstützung der Perestroika dienen sollten, doch bald eine Kraft waren, die das Machtmonopol der Kommunisten erschütterte.

Die „Baltische Versammlung“, in der sich die Volksfronten zusammengeschlossen hatten, appellierte an die Sowjetführung und an die UNO, den Anspruch ihrer Völker auf „Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in einer neutralen, demilitarisierten Zone“ anzuerkennen. Dass ihre Länder 15 Jahre später der Nato angehören würden, hielten damals selbst die radikalsten Vorkämpfer nicht für möglich.

Niemand wusste, wie Moskau reagieren würde. Hoffnung hatten die Leute. Und Angst. Würde es ihnen gehen wie den Ungarn 1956, den Tschechen 1968? „Jeden Tag fürchteten wir, dass die Panzer kämen“, sagt Kerstti Kittus, die in einer Plattenbausiedlung am Stadtrand von Tallinn wohnt und all die Zeitungen von damals gesammelt hat. Mit „Freudentränen in den Augen und Angstschmerzen im Bauch“ hat sie die Menschenkette erlebt. Wirklich frei fühlte sie sich erst fünf Jahre später, als Moskau die letzten Soldaten aus dem Baltikum abzog. „Erst da war für uns der Zweite Weltkrieg zu Ende.“

Zwei Jahre später unabhängig

„Ich habe mir immer gewünscht, dass Estland wieder frei sein würde“, sagt Peeter Tulviste, der an der Universität Tartu unterrichtete, „aber realistisch war das nicht.“ Nur in Zusammenhang mit einem „verheerenden Krieg“ schien es vorstellbar, dass Moskau den Griff um die annektierten Republiken lösen würde, „und den wünschte natürlich niemand“. Und dann wurde Estland frei, ohne dass ein Schuss fiel.

Als zwei Millionen Menschen Arm in Arm den „baltischen Weg“ säumten, sollte dies ein „Signal an die Welt“ sein, sagt Marju Lauristin, eine der Gründerinnen der estnischen Volksfront: dass die Balten gewaltfrei seien. Und einig. „Diese Eintracht. Das war die schönste Zeit unseres Lebens“, sagt der Linguist Mati Hint, einer der führenden Köpfe der Volksfront.

Zehn Stunden lang dauerte die Aktion. Freiwillige sorgten dafür, dass auch in den menschenleeren Waldgegenden die Reihen geschlossen waren. Nachbarn kamen und versorgten die Demonstranten mit Essen. „Damals agierte das Volk als Subjekt und nicht als Objekt der Geschichte“, meint der Soziologe Anders Raid, „zum ersten und zum letzten Mal.“ „Die schönste Stunde ist die Stunde vor der Freiheit“, sagt Hint: wenn alles noch machbar erscheint.

Denn als die Unabhängigkeit zwei Jahre später Wirklichkeit wurde, war es mit der Eintracht schon wieder vorbei. Das hatte mit dem Streit über den Weg zur Unabhängigkeit begonnen: Sollte man aus der Sowjetunion austreten? Oder darauf beharren, dass man ihr nie angehört habe, und die Vorkriegsrepublik wiederherstellen? Als sich die zweite Ansicht durchsetzte, stieß Estland die russischen Demokraten ab. Die meisten Russen waren im neuen Estland keine Mitbürger. Die Privatisierungspolitik führte zu enormen Unterschieden zwischen Arm und Reich, die Rückgabe enteigneten Eigentums schürte neue Konflikte.

Der Volksfront entsprang eine Vielzahl von Parteien. „Innerlich“, sagt Marina Iwanowa, „habe ich mich von dem Staat getrennt“, die Ausgrenzung der Russen tat ihr weh. Und dennoch zögert sie bei der Frage, in welchem Land sie ihre Heimat sehe, keinen Augenblick: „In Estland.“

DIE MENSCHENKETTE

1988 entstehen in den baltischen Staaten Volksfronten als erste unabhängige politische Bewegungen auf dem Gebiet der Sowjetunion. Bei Wahlen brechen sie das Machtmonopol der KP.

1989 fordert die Baltische Versammlung die Wiederherstellung der Selbstständigkeit. Am 23.August bilden zwei Millionen Menschen eine Menschenkette, um gegen die Besatzung zu demonstrieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2009)

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