Rückblick: Ungarische Zweifel am Systemwechsel von 1989

Chef der ultrarechten Partei Jobbik, Gábor Vona.
Chef der ultrarechten Partei Jobbik, Gábor Vona.(c) EPA (Attial Kovacs)
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Die Ungarn gelten gemeinsam mit den Polen als Vorreiter des Umbruchs in Mittelosteuropa vor 20 Jahren. Doch in kaum einem anderen Land fällt der Blick zurück auf die damaligen Ereignisse so zwiespältig aus.

BUDAPEST. Der Chef der ultrarechten Partei Jobbik, Gábor Vona, sprach jüngst aus, was viele Ungarn heute denken: Er habe das verlogene politische System in Ungarn satt. Von wegen Systemwechsel vor 20 Jahren. Heute sei dasselbe Pack an der Macht wie vor der Wende. Der einzige Unterschied zum Kommunismus: Die „jüdisch-bolschewistische“ politische Elite von heute habe Ungarn an die Multis „verkauft“ und die „Seuche des Liberalismus“ eingeschleppt.

20 Jahre nach der Wende ist in Ungarn die Leugnung des Systemwechsels nicht nur in rechtsradikalen Kreisen populär. Auch im Lager der gemäßigten Rechten herrscht wachsende Skepsis gegenüber den Errungenschaften der Wendejahre 1989/90.

Der den oppositionellen Jungdemokraten nahestehende Politologe Tamás Fricz etwa ist der Ansicht, dass der Systemwechsel „bloß formell und in rechtlichem Sinne“ stattgefunden habe. Laut Fricz tummeln sich im ungarischen Beamtenapparat heute noch immer die alten Kader. Der Politologe kommt zum Schluss: „Die Form hat sich verändert, der Inhalt aber nicht.“

Tabubrecher Imre Pozsgay

Der letzte kommunistische Staatsminister, Imre Pozsgay, kann diese Meinung nicht teilen. Laut Pozsgay wurden nicht nur die Institutionen der Diktatur „friedlich aus dem Weg geräumt“. Auch habe Ungarn seine „staatliche Souveränität und nationale Unabhängigkeit zurückerlangt“, nachdem das Land rund 40 Jahre lang am Gängelband der Sowjetunion war.

Pozsgay gehörte zu den wenigen hochrangigen kommunistischen Politikern, die der Wende aus dem Inneren des Systems den Weg ebneten. Bereits im Oktober 1988 habe er bei einer Pressekonferenz an der österreichisch-ungarischen Grenze prophezeit, dass der Eiserne Vorhang fallen werde.

Anfang 1989 wiederum sei er der Erste aus den Reihen des damaligen Regimes gewesen, der die Ereignisse von 1956 als „Volksaufstand“ bezeichnete. Damit brach er ein Tabu. Bis dahin hatte nämlich das Diktat der kommunistischen Obrigkeit gegolten, wonach die Geschehnisse von 1956 ein Aufbegehren gegen die „sozialistische Revolution“, mithin eine „Gegenrevolution” waren.

Pozsgay trat damit eine Lawine los. Es kam nicht nur zu Massenaustritten aus der kommunistischen Staatspartei, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, sondern auch zum Erstarken der demokratischen Opposition, die immer selbstbewusster auf Veränderungen pochte. Obwohl Pozsgay wegen seiner ketzerischen Äußerungen von der damaligen KP-Führung als „Putschist“ abgekanzelt wurde, blieb er als Staatsminister im Amt. Die kommunistische Führung hatte angesichts des Tauwetters in der internationalen Politik und der rebellischen Stimmung im Land einfach nicht den Mut, Pozsgay zu entfernen.

Pozsgay wurde später sogar Leiter der KP-Delegation bei den Verhandlungen am runden Tisch, die zwischen Juni und Oktober 1989 die Weichen für freie Wahlen und die Schaffung demokratischer Institutionen stellten.

Nach Ansicht des in Budapest lebenden deutschen Zeithistorikers Andreas Schmidt-Schweizer hat es 1989 weniger eine Verhandlungslösung zwischen der Staatspartei und der Opposition gegeben, „vielmehr gab es eine Transformation von innen“, sagt er. Diese sei von einigen Leuten innerhalb der damaligen Staatspartei initiiert worden, allen voran von Pozsgay und dem letzten kommunistischen Ministerpräsidenten, Miklós Németh.

„Der Boden für die Marktwirtschaft wurde bereits zwischen 1987 und 1988 vorbereitet“, so der Zeithistoriker. Erst danach sei die demokratische Opposition in den Entscheidungsprozess eingebunden worden. Diese historische Tatsache werde bei der Darstellung des ungarischen Systemwechsels zumeist missachtet, sagt Schmidt-Schweizer.

„Geplatzte Illusionen“

Einer der Protagonisten der Opposition war Bálint Magyar, späterer Parteichef der liberalen Freien Demokraten und Bildungsminister in zwei linksliberalen Regierungen. Magyar, der ab Ende der 1970er-Jahre der Dissidentenszene in Ungarn angehört hatte, bemerkt, dass der Begriff „Systemwechsel“ zum ersten Mal von ihm in den Mund genommen wurde.

Im Gegensatz zu Schmidt-Schweizer meint Magyar auch, dass die Demokratisierung in Ungarn 1989 sehr wohl auf Druck der demokratischen Opposition erfolgt sei. Diese wiederum sei vom Wandel auf der Bühne der internationalen Politik, zumal in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, bestärkt worden.

Dass viele Ungarn den Systemwechsel heute mit Ernüchterung sehen, führt Magyar auf „geplatzte Illusionen“ zurück. „Viele Menschen glaubten, dass die Erlangung westlicher Freiheit mit westlichem Lebensstandard gekoppelt sein werde.“ Stattdessen sahen sie sich bald mit wirtschaftlichen Problemen und dem Verlust sozialer Sicherheit konfrontiert.

Auch der 20-jährige Gergely Nagy sieht „Positives im alten System“. Nagy, der im Jahr der Wende geboren wurde, spricht davon, dass vor 1989 „jeder ein sicheres Einkommen und eine Wohnung hatte“. Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da. Laut einer Umfrage sind gar 49Prozent der unter 29-Jährigen in Ungarn der Meinung, dass es zu Zeiten des Kommunismus besser war als heute.

AUF EINEN BLICK

Die Ungarn gelten gemeinsam mit den Polen als Vorreiter des Umbruchs in Mittelosteuropa vor 20 Jahren. Doch in kaum einem anderen Land fällt der Blick zurück auf die damaligen Ereignisse so zwiespältig aus. Insbesondere im politischen Lager rechts der Mitte wird bezweifelt, dass es 1989 tatsächlich einen Systemwechsel gegeben habe. Zugleich gibt es eine Nostalgie nach der KP-Ära.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2009)

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