Holocaust-Zeuge: "Ich war in Auschwitz"

Zeitzeuge Freddie Knoller
Zeitzeuge Freddie Knoller(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Der gebürtige Wiener Freddie Knoller war als Zeitzeuge vor Oberstufenschülern im jüdischen Zwi-Perez-Chajes-Gymnasium zu Gast. Seine rund eineinhalbstündige Erzählung beginnt in Wien, im April 1921.

WIEn. Freddie Knoller ist ein rüstiger 88-jähriger Mann. Würde man ihn auf der Straße treffen, käme man nicht auf die Idee, welch grausames Schicksal ihm zuteilwurde. „Ich war in Auschwitz“, sagt er denn auch gleich zu Beginn seiner rund eineinhalbstündigen Erzählung vor Oberstufenschülern der Zwi-Perez-Chajes-Schule und betont gleichzeitig, wie gut es ihm heute gehe. Zu Gast ist er in dieser ersten Novemberwoche auch an den beiden Wiener AHS Pichelmayergasse und Anton-Baumgartner-Straße.

Knollers Geschichte beginnt in Wien, im April 1921, seinem Geburtsmonat. Sein Bruder Otto war damals acht Jahre alt, sein Bruder Eric zwei. Gemeinsam ist ihnen eine behütete Kindheit, der Vater ist Buchhalter, die Buben musizieren. Die Familie lebt in der Unteren Augartenstraße, gelegentlich besucht man zu Schabbes den Polnischen Tempel in der Leopoldsgasse, zu den hohen Feiertagen immer.

Schaut auf die Gesichter!

1938 ist dann plötzlich alles anders. Knoller erzählt von den Novemberpogromen, an die Wand wird ein Foto gebeamt, das straßenschrubbende Juden zeigt, dahinter die Menge, die zusieht. „Schaut auf die Gesichter“, fordert der alte Mann die Schüler auf, „schaut, wie sie lachen.“ Vieles von dem, was Knoller hier vorträgt, wirkt wie Geschichtsunterricht. Dann etwa, wenn er auf einer Karte zeigt, welche Länder von Nazi-Deutschland okkupiert gewesen sind, wenn er Zahlen präsentiert, wie viele Synagogen in der „Kristallnacht“ brannten, wie viele Juden sich in den Tod stürzten.

Und dann wieder erzählt Knoller sehr mitreißend, sehr plastisch. Und zwar immer dann, wenn er authentisch eigene Erlebnisse vermittelt. Etwa die Bilder, die er vom Brand des Tempels in der Leopoldsgasse im Kopf hat. „Die SA hat die Feuerwehr nicht die Synagoge löschen lassen. Nur die angrenzenden Gebäude sollten geschützt werden.“

Der Vater schickt die drei Söhne ins Ausland – der Älteste brach nach England auf, der Mittlere erhielt ein Affidavit für die USA, der Kleinste wurde nach Belgien geschickt. Dort hat er zunächst in einem Flüchtlingslager gelebt – danach begann ein jahrelanger Kampf, am Leben zu bleiben.

Ein wenig leidet die plastische Schilderung hier am Umstand, dass Knoller lieber auf Englisch als auf Deutsch vorträgt. Sein Deutsch ist zwar nach wie vor wunderbar, doch ist er seit Jahren in England als Zeitzeuge an Schulen unterwegs. „Mindestens einmal in der Woche rede ich an einer Schule“, sagt er. Vielleicht hat er auch deshalb seine persönlichen Erinnerungen um geschichtliche Fakten ergänzt. Es ist ein bereits viele Male präsentierter Vortrag, den Knoller hier hält, und dennoch, viele Sätze berühren, verstören. Bis heute verrät ihn übrigens im Englischen sein typisch Wienerischer Akzent, trotzdem fühlt er sich in der neuen Sprache sicherer.

Nach der deutschen Invasion im Mai 1941 in Belgien flieht er über die Grenze nach Frankreich, wird verhaftet und ins Auffanglager St. Cyprien gebracht. Die Cholera bricht aus, Typhus grassiert – und er flieht unter dem Stacheldraht hindurch nach Paris. Dort schlägt er sich mit fremden Papieren als Fremdenführer durch, zeigt deutschen Soldaten den Montmartre. „Wenn ich die Juden sah mit ihrem Stern, da habe ich mich gefühlt wie ein Verräter.“

Schließlich flieht er vor der Gestapo, schließt sich der Resistance an, wird von einer Frau verraten, die er kurz zuvor verlassen hat – Janine. Im Oktober 1943 wird er nach Auschwitz deportiert. Befreit wird er schließlich im April 1945 von den Briten im Lager Bergen-Belsen. Dort, so schildert Knoller, „gab es gar nichts mehr zu essen. Wir haben Gras gegessen, Wurzeln. Und überall auf dem Boden lagen Tote. Manche haben mit einem spitzen Stein die Leichen aufgeschlitzt, das Fleisch gebraten und gegessen. Das ist Kannibalismus.“ Es sind Sätze wie diese, die einen erschaudern lassen.

Nächtliche Albträume

Die Schüler hören gespannt und leise zu, kein Raunen, kein Tratschen, nichts ist zu hören. Die erste Frage eines Schülers nach dem Vortrag: Ist Knollers Familie religiös gewesen? Nicht sehr, so die Antwort. Man sei in den Tempel gegangen, aber eben nicht regelmäßig. Was ist mit seinen Eltern passiert? Aus Wien deportiert nach Theresienstadt, schließlich vergast in Auschwitz. Knoller weiß das selbst erst seit acht Jahren, seit einem Besuch in Polen für einen Beitrag der BBC.

Vieles war überhaupt erst in den vergangenen Jahren möglich. So wie viele andere Holocaust-Überlebende auch hat Knoller jahrzehntelang nicht über seine Erlebnisse gesprochen. Doch nachts, da haben ihn Alpträume geplagt. Aber eines Freitagabends, man saß beim Schabbesessen, da sagten die beiden Töchter, 19 und 21 Jahre alt, sie würden ja die eintätowierte KZ-Nummer sehen, sie wüssten, dass er im Lager war. Ob er ihnen nicht darüber erzählen wolle. „Und dann floss bis vier Uhr in der Früh alles aus mir heraus – und ich habe keine Albträume mehr.“ Seitdem erzählt Knoller auch anderen jungen Menschen seine Geschichte und 2001 hat er seine Erinnerungen zudem in dem Buch „Desperate Journey. Vienna–Paris– Auschwitz“ zu Papier gebracht.

Seine größte Sorge: Wer sorgt für ein Nie-mehr-wieder, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Die Schüler haben an diesem Vormittag jedenfalls die Erinnerungen des lebhaften 88-Jährigen für sich mitgenommen. „Ich fand es einfach toll, dass er so frei gesprochen hat“, meint die 14-jährige Elena. Ihre Familie stammt aus Russland, ihr Urgroßvater war nach dem Krieg in Deutschland als Sowjetsoldat stationiert. Auch Aviels Familie stammt aus Russland. Der 14-Jährige hat vergangenes Jahr zum ersten Mal in der Schule vom Holocaust gehört. Der Vortrag sei „schon sehr interessant“ gewesen, meint er, und Knoller „ein sehr netter Typ“. „So ein Leben hat man nicht immer.“

AUF EINEN BLICK

Die Zwi-Perez-Chajes-Schule (ZPC) ist die Schule der Israelitischen Kultusgemeinde Wien mit einem Unterrichtsprogramm vom Kindergarten bis zum Gymnasium. 600 Schüler kann die Schule aufnehmen. Damit ist sie die größte jüdische Schule Österreichs.

Derzeit besuchen ca. 380 Schüler die ZPC, die vor einem Jahr wegen Platzmangels von der Castellezgasse auf einen Campus nahe dem Praterstadion übersiedelte.

Unterrichtet wird an der ZPC neben Pflichtfächern wie Mathematik und Deutsch auch die jüdische Tradition.

Das Essen ist koscher; jüdische Feiertage werden eingehalten; Buben müssen eine Kippa oder Kappe tragen; eine Schuluniform ist Pflicht; der Unterricht findet zum Teil in Hebräisch statt; fächerübergreifend werden Verbindungen zur jüdischen Geschichte hergestellt.

www.zpc.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.