90 Jahre nach Trianon: Träume von „Großungarn“

Im Juni 1920 zerstückelte der Friedensvertrag von Trianon das alte Ungarn: Es verlor zwei Drittel seines Gebiets.

Budapest. In Ungarn begegnet man ihm heute auf Schritt und Tritt: dem Abbild des einstigen „Nagy Magyarország“ (Großungarns), sei es als Aufkleber auf ungarischen Autos, als Schlüsselanhänger, T-Shirt-Aufdruck oder kitschige Holzschnitzerei an der Wand vieler Wohnzimmer.

Am heutigen Tag ist es 90 Jahre her, dass Ungarn mit dem Friedensvertrag im Schloss Trianon bei Paris zwei Drittel seines damaligen Gebiets mit einem Drittel der Bevölkerung an die Tschechoslowakei, UdSSR, Ukraine, Rumänien, Jugoslawien und Österreich abtreten musste. Als Resultat des „Friedensdiktats“ leben heute ca. 2,5 Millionen Ungarn außerhalb ihres Mutterlandes.

Im Lager der Verlierer

Grund für die Zerstückelung durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich, war der Umstand, dass Ungarn als Teil der Doppelmonarchie an der Seite Österreichs den Ersten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hatte. Diesen verloren bekanntlich die „Mittelmächte“ (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei).

Die Zerteilung ihres Landes haben die meisten Magyaren nicht verwunden. Neben anderen historischen Traumata ist es nicht auch darauf zurückzuführen, dass das ungarische Gemüt von einer eigentümlichen Ambivalenz zwischen Kleinmut und Melancholie, Aufsässigkeit und großmannssüchtigem Patriotismus gekennzeichnet ist. Der aus Budapest stammende Schriftsteller Arthur Koestler schrieb im Hinblick auf den psychischen Zustand der Ungarn gar von einer „kollektiven Neurose“. Und der ungarische Komiker László Tahi Tóth parodierte die Magyaren als „Volk, das weinend lacht“.

„Nein! Nein! Niemals!“

„Trianon“ ist bis heute auch Grund für Konflikte zwischen Ungarn und seinen Nachbarn. In der Zwischenkriegszeit verfolgte Ungarn unter „Reichsverweser“ Miklós Horthy eine offene revisionistische Politik. Die Parole „Nein! Nein! Niemals!“, die die trotzige Ablehnung des „Friedensdiktats“ ausdrückte, war in Ungarn in aller Munde.

Die Bestrebungen Horthy-Ungarns, die Grenzziehungen von 1920 rückgängig zu machen, waren im Zweiten Weltkrieg dank der Allianz mit Deutschland vorerst von Erfolg gekrönt: Von Hitlers Gnaden konnte Ungarn große Teile der verlorenen Gebiete an sich reißen. Doch wie schon im Ersten stand Ungarn auch im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Verlierer. Das Gebiet schrumpfte wieder auf die alte Rumpf-Größe.

Unter Beobachtung

Angesichts der Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg galt Ungarn bei seinen Nachbarn fortan als verdächtig. Jede Regung wurde mit Argusaugen verfolgt. Den ungarischen Minderheiten aber wurde, zumal in Rumänien unter „Conducator“ Nicolae Ceauşescu, das Leben schwer gemacht.

Trotz des Demokratisierungs- und Öffnungsprozesses seit der Wende 1989 in Ostmitteleuropa hegen einige Nachbarn immer noch tiefes Misstrauen gegenüber Ungarn. Vor allem die Slowakei, die nach der Teilung der Tschechoslowakei 1993 Souveränität erlangte, reibt sich jedes Mal daran, wenn Ungarn (besonders unter konservativen Regierungen) die rund 500.000 Angehörigen der dortigen ungarischen Minderheit unterstützen will.

Jüngstes Beispiel ist der Beschluss der ungarischen Regierung von Viktor Orbán, Auslandsmagyaren die Staatsbürgerschaft im „Eilverfahren“ zu verleihen. Der slowakische Premier Robert Fico gab sich prompt bockig; er sprach in Bezug auf die mögliche Doppelstaatsbürgerschaft für slowakische Ungarn von einer „großen Gefahr“ für sein Land. Die Reaktion Ficos zeigt einmal mehr, dass Trianon und seine Folgen heute noch immer virulent sind.

Dass das ungarische Parlament auf Initiative der Regierung Orbán den Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Trianon (4. Juni) Anfang dieser Woche zum „Tag der nationalen Zusammengehörigkeit“ erklärte, wird von der Slowakei als weiterer Affront aufgefasst.

Dauerfehde mit Slowaken

Der Historiker Iván Bertényi erklärte gegenüber der konservativen Wochenzeitung „Nagyítás“, dass die Slowakei deshalb so scharf auf jede Geste Ungarns Richtung slowakischer Magyaren reagiere, weil sie als junges Land ihre Identität noch nicht gefunden habe. Zudem war die Slowakei laut Bertényi jahrhundertelang Teil des Königreichs Ungarn.

Dagegen haben sich in Rumänien, wo 1,4 Millionen Magyaren leben, frühere Gegensätze zwischen Rumänen und ungarischer Minderheit angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs in den vergangenen Jahren entschärft, so Historiker Bertényi.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2010)

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