Anne Franks Häscher – ein Wiener Polizist

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"Enttarnt": Ein "Spiegel"-Journalist über bemerkenswerte Nachkriegskarrieren von Gestapo- und SS-Männern.

Am 4. August 1944 bremste ein Opel mit quietschenden Reifen vor dem Haus Prinsengracht 263 in Amsterdam. Der österreichische SS-Oberscharführer Karl Josef Silberbauer stürmte mit drei bewaffneten Zivilisten das Hinterhaus, in dem sich seit dem 6. Juli 1942 acht Juden – darunter die Familie Frank – versteckt hatten und so bisher ihrer Deportation und dem sicheren Tod im KZ entkommen waren. Der anonyme Verräter konnte nie zweifelsfrei zur Rechenschaft gezogen werden.

Seit 1940 regierte in den von den Deutschen besetzten Niederlanden der Wiener Arthur Seyß-Inquart als „Reichskommissar“. Der als gemäßigt geltende Nationalsozialist war 1938 die Schlüsselfigur vor dem „Anschluss“ an Hitler-Deutschland, doch seine Amtszeit als Bundeskanzler währte nur zwei Tage. Versetzt in die Niederlande, war der ehemalige Rechtsanwalt verantwortlich für die Zwangsarbeit und Deportation von über 100.000 Juden in Vernichtungslager. 1946 endete er nach dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal am Galgen.

Das Schicksal der 15-jährigen Anne Frank, deren heimliches Tagebuch im Amsterdamer Versteck sie unsterblich machen sollte, ist also eng mit dem damals 33-jährigen Österreicher Silberbauer verknüpft. Seine weitere „Karriere“ – auch in der Zweiten Republik – hat nun Peter-Ferdinand Koch dokumentiert. Sein Buch „Enttarnt“ gelangt dieser Tage auf den Markt. Er hat Quellen der CIA in Washington und Akten des deutschen Bundesnachrichtendienstes durchforstet und schon mehrfach im „Spiegel“ sein Spezialwissen über den BND ausgebreitet.

Das Mädchen in Birkenau

Anne Franks Vater Otto, ein Deutscher, der die Firma Opekta in den Niederlanden repräsentierte, sollte als Einziger die Razzia überleben. Anne selbst, die in ihren Kinderträumen von Hollywood schwärmte, wurde am 3. September mit weiteren 1018 Juden nach Auschwitz transportiert. An der Rampe sah sich ihre Familie zum letzten Mal.

549 der Unglücklichen – darunter alle Kinder unter 15 Jahren – kamen direkt in die Gaskammern. Anne war 15 Jahre und drei Monate alt. Sie landete im Frauenlager Birkenau. Die katastrophalen hygienischen Bedingungen zerbrachen ihren Lebenswillen. Im Jänner 1945 warf man sie im KZ Bergen-Belsen – mehr tot als lebendig – in ein „Schonungslager“. Der Typhus raffte etwa 17.000 Gefangene dahin. Auch Anne Frank fiel im März geschwächt von ihrer Pritsche und starb. Das Kriegsende nahte, überall herrschte Chaos, also wurden auch keine näheren Daten mehr notiert.

Silberbauer war ein „Spezialist“

Was aber geschah mit Karl Josef Silberbauer, geboren 1911 in Wien, gestorben 1972? Der SS-Mann galt bei der Wiener Gestapo wegen seiner Brutalität als „Verhörspezialist“, schreibt Koch. Seine Versetzung nach Holland dürfte strafweise erfolgt sein. Jedenfalls kehrte Silberbauer im April 1945 nach Wien zurück, wo er einige Monate im Gefängnis saß, um dann erneut in die Wiener Polizei übernommen zu werden.

Seine weitere Tätigkeit blieb geheimnisumwittert. Denn inzwischen hatte Reinhard Gehlen sein Informationsnetz über Österreich geworfen. Der Chef der „Abteilung Fremde Heere Ost“ unter Hitler, also der Ostspionage bis Kriegsende, war rasch wieder auf die Beine gekommen. Er hatte ein gutes Gespür, von wo her der Wind wehte. Schon 1944 ahnte er: „Die Westmächte werden sich gegen den Verbündeten Russland wenden. Dabei werden sie mich, meine Mitarbeiter und meine kopierten Dokumente im Kampf gegen eine kommunistische Expansion benötigen, weil sie selbst keine Agenten dort besitzen.“

Und so ließ Gehlen kurz vor Kriegsende das gesamte nachrichtendienstliche Material von vertrauten Untergebenen verfilmen, in wasserdichte Fässer verpacken und in den österreichischen Alpen vergraben.

Um seine Auslieferung an die Sowjets zu vermeiden, stellte sich Gehlen den Amerikanern und durfte bereits 1947 unter dem Codename „Nikolaus“ die „Organisation Gehlen“ wieder zum Leben erwecken – jetzt unter wohlwollender US-Aufsicht. Sie wurde in der Heilmannstraße in Pullach untergebracht, einer Villenkolonie, die einst für die NS-Elite errichtet worden war. Die Zentrale des heutigen „Bundesnachrichtendienstes“ BND befindet sich noch heute dort.

Den Bock zum Gärtner gemacht

Gehlen hoffte, über den Umweg der „historischen Forschung“ an jene NS-Personalakten heranzukommen, die seine NS-belasteten Gehilfen betrafen, vor allem an NS-Dokumente, die ihn selbst und seine Organisation berührten. Das Institut wurde von den Alliierten mit Papieren aus den Nürnberger Prozessen aufgefüllt. In der „Organisation Gehlen“ gab es von 1948 bis 1950 eine eigene Auswertungsabteilung, deren Aufgabe darin bestand, NS-Papiere aus dem Institut nach Pullach zu karren, wo Kopien angefertigt wurden.

Silberbauer war nur einer von unzähligen österreichischen Informanten, die Gehlen unter seinen Schutz stellte und in seine Dienste nahm. Wien und Westberlin waren im Nachkriegseuropa die heißesten Pflaster für Spione jeglicher Provenienz. Es war aber auch ein gefährliches: Die Staatspolizei war seit ihrer Neugründung 1945 stark kommunistisch unterwandert und stand unter dem „Schutz“ der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich. Dafür hatte der KP-Funktionär Franz Honner gesorgt, der in der ersten Übergangsregierung nach '45 Innenminister war. Als Chef der Stapo amtierte der Kommunist Heinrich Dürmayer. Erst 1947 gelang es dem SP-Innenminister Oskar Helmer, Dürmayer aus dem Amt zu drängen.

Der bekennende Kommunist Broda

Ganz speziell ist – neben der Episode Helmut Zilk – der „Fall Engelbert Broda“. Der weltbekannte Physiker war der Bruder des SP-Justizministers Christian und überzeugter Kommunist, weil er dem Frieden dienen wollte. Am 26. Oktober 1983, am Nationalfeiertag, erlag der Forscher beim Spaziergang einem Herzschlag – die Trauer war groß. Ebenso groß die Verwunderung 26 Jahre später: Die „Times“ enthüllte 2009 den Wiener Friedensfreund als Sowjetagenten. Broda arbeitete in der Emigration ab 1938 in Cambridge, wo eine britische Atombombe („Tube Alloy Project“) entwickelt werden sollte. Er habe Moskau darüber auf dem Laufenden gehalten, schreibt Freud. Nach Wien zurückgekehrt, schloss er sich der Friedensbewegung an. „Ob Broda dem sowjetischen Geheimdienst bis zu seinem Tod weiter diente, bleibt unklar“, rätselt der Autor.

Ein Wink an die „Herren Agenten“

In Wien hatten die Agenten aus aller Herren Länder den zusätzlichen Vorteil, dass sie ungeschoren agieren konnten. „Der Oberste Gerichtshof hatte ihnen Freibriefe ausgestellt“, behauptet Freud: „Solange sie nicht unmittelbar gegen Österreich spionierten, blieben sie ungeschoren. Und geriet einer einmal wirklich in Verdacht, gab die Staatspolizei dem betreffenden Agenten gelegentlich einen diskreten Hinweis: Er möge Österreich schleunigst verlassen...“

Hier begibt sich der Autor auf das unsichere Terrain der Spekulation und des Fabulierens. Tatsache jedenfalls ist: Die Tätigkeit für die Gestapo wurde Karl Josef Silberbauer, diesem „untadeligen“ österreichischen Beamten, auf die Pension angerechnet.

Peter-Ferdinand Koch

Enttarnt

Ecowin-Verlag, 468 Seiten,24,90 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2011)

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