Isolierte Ikonen der Architektur

Isolierte Ikonen Architektur
Isolierte Ikonen Architektur(c) Erwin Wodicka (Erwin Wodicka)
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Mut und Risiko sind Bestandteil jeder Architektur. Doch bei den "Autorenbauten" der Gegenwart dominiert die ästhetische Selbstdarstellung. Es fehlen städtebauliche Visionen.

Mut und Risiko sind Architektur und Städtebau immanent. Denn jeder Bau ist ein Prototyp, in seiner immer einzigartigen Situation und Umgebung ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Und jede städtebauliche Vision ist auf Jahrzehnte der Verwirklichung angelegt, mit dem Risiko, alle politischen Veränderungen in dieser Zeit zu überdauern. Weshalb sich die Architektur seit Jahrhunderten Konventionen und Regeln verschrieben hat, bestimmte Bautypen, also Formen für funktionelle Erfordernisse, definiert hat, die auf Erfahrungen und kulturellen Vereinbarungen beruhen, die sich nur in langen Zeiträumen verändern.

Erst im 20. Jahrhundert hat sich eine Entwicklung vollzogen, die jedem Architekten die Freiheit eingeräumt hat, allein seinen individuellen künstlerischen Ideen folgend, singuläre künstlerische Monumente zu verwirklichen. Der Architekt ist zum „Autor“ geworden, der seine eigene künstlerische Interpretation, abgesehen vom Ort und seinen Konventionen, verwirklichen will. Das führte zum Phänomen der „Stararchitekten“ der vergangenen Jahrzehnte, die immer neue, gewagtere Formen einer urbanistischen, isolierten „ikonischen“ Architektur verwirklichen konnten. Stationen auf diesem Weg waren Frank O. Gehrys legendäres Guggenheim-Museum in Bilbao, aber auch stellvertretend für viele große und kleine „Meisterwerke“ auf der ganzen Welt, die Automobilkathedralen in Deutschland, das Mercedes-Museum des niederländischen UN-Studios in Stuttgart, das Porsche-Museum der österreichischen Architekten Delugan+Meissl oder die BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au in München.

Stillschweigen über die Kosten. Alle diese Bauten verlangten Mut und Risiko der Bauherrn, die den experimentellen Ansprüchen folgenden Explosionen der Baukosten zu dulden und zu verkraften. Weshalb sie auch am Ende stolz auf den Marketingerfolg der Ikonen verwiesen, und vornehm über die wahren Kosten schwiegen. (Laut Insidern gilt die Regel des Dreifachen der ursprünglich angenommenen Kosten. Aber immerhin sind diese dann Ikonen der Baugeschichte und keine ebenso teuren, aus Unfähigkeit geborenen Bauskandalruinen.)

Zum erklärten politischen Programm wurden diese architektonischen Experimente und Selbstdarstellungen aber erst in China und in den aufstrebenden Golfstaaten. Es sollte der Welt gezeigt werden, dass hier mit Mut und Risikobereitschaft architektonische Experimente möglich sind, die in der westlichen Hemisphäre aufgrund von langwierigen demokratischen Entscheidungsprozessen und Regulativen undenkbar wären. Wie immer schon in der Geschichte der Architektur sollte bewiesen werden, dass herausragende, riskante Projekte nur unter autokratischer und totalitärer Herrschaft verwirklicht werden können. Selbstverständlich geheim blieben die Baukosten für den welthöchsten Skyscraper Burj al-Kalifa in Dubai oder dem „Birds Nest“ von Herzog+DeMeuron und dem CCTV Building von OMA in Peking. Und dabei machen auch all die anderen autokratischen Bauherrn in Staaten wie Singapur, Aserbaidschan, Kasachstan, Georgien, etc. mit großem Ehrgeiz und „Mut zum architektonischen Risiko“ mit.

Ja, all diese Bauten haben die Ausdrucksmöglichkeiten der Architektur, ihre konstruktiven Instrumente und ästhetischen Experimente, einem geradezu babylonischen olympischen Projekt folgend, in neue Dimensionen befördert. Sie bleiben aber singuläre Manifeste individueller künstlerischer Verwirklichung. Sie haben keinerlei Auswirkungen auf das alltägliche Baugeschehen, sind keine Visionen und Strategien, die einen positiven Einfluss auf die Lebenswirklichkeit der Weltbevölkerung ausüben könnten.

Was bei dieser Fixierung auf die einzigartige architektonisch-künstlerische Landmark, die mit Mut zum Risiko von politisch autokratischen Bauherrn verwirklicht wird, verloren gegangen ist, ist die Idee oder die Vision einer urbanistischen Gestalt, die Idee einer Form des Lebens im architektonisch gestalteten Raum für alle. Viel zu sehr folgen heute alle nur mehr der Idee des konsumistisch spektakulär isolierten „Objekts“ und blenden den Raum, in dem es sich befindet – den Lebensraum für viele – einfach aus.

Alle heutigen Stadtplanungsvisionen für neue Städte in Asien und den Golfstaaten sind gegenüber den architektonisch spektakulären Einzelobjekten relativ banal. Es sind, grosso modo, ungeplant wirkende Wucherungen oder bestenfalls banale Wiederholungen der Formideen für Stadtvisionen des 19. Jahrhunderts.

Das Zeitalter der Industrialisierung der europäischen Stadt verlangte nach einer Rationalisierung der Quartiere, die die verworrene merkantile, kleinteilige Stadt davor zu überwinden hatte. Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete der Ingenieur Ildefonso Cerdá seinen berühmten Plan Cerdá für die Erweiterung Barcelonas. Mit rational begründeten Blöcken von 133 Meter im Quadrat.


Ringförmiges Wachstum. Dem folgte rund fünfzig Jahre später Otto Wagner mit seinem Stadterweiterungsplan für Wien. Weniger „demokratisch“ als der egalitär gerasterte Plan Cerdá bestand Wagners eher hierarchisch geprägter, vom Zentrum aus gedachter, visionärer Plan aus einer Expandierung des Ringstraßensystems für eine, wie er meinte, „unbegrenzte Großstadt“. Aber nicht Wien, das seit hundert Jahren keinen Bedarf für Wachstum hatte, sondern Moskau oder Beijing folgten dieser Strategie der ringförmig wachsenden Großstadt.

Wesentlich an Otto Wagners Vision war aber nicht so sehr die Strategie der Stadtplanung, sondern der damit verbundene künftige Raum der Stadt und seine Substanz. Die Bebauungsformen, die Breite der Straßen und ihre Ausgestaltung, die Höhe der Häuser und ihre Materialität. Wien fehlte hier der Mut, dieses Risiko einer Stadtvision überhaupt nur zu beginnen.

So bleibt am Ende nur die Feststellung, dass nicht nur hierzulande einerseits der Stadtplanung jeder Mut zum Risiko, also zu einer Vision der künftigen Gestalt der Stadt, vollkommen abhandengekommen ist, und dass andererseits die Architektur, das Gebaute, keiner kulturell anspruchsvollen Konvention mehr folgen kann, sondern von surrealen legistischen Normen, Baurichtlinien und Vorschriften beschränkt wird, die jedes Risiko auszuschließen trachten, und der „Mut“ der Architektur nur mehr darin besteht, mit List und Kreativität dieses Korsett zu durchbrechen oder zu umgehen.

Steckbrief

Dietmar Steiner (1951*) ist seit 1993 Direktor des Architekturzentrums Wien.

Studium der Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Steiner war langjähriger Mitarbeiter von Friedrich Achleitner am Archiv „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“. Bis 1989 unterrichtete er an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien an der Lehrkanzel für Geschichte und Theorie der Architektur.

Zahlreiche Beiträge zur Kritik und Theorie der Stadt und Architektur in internationalen Medien. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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