"Wie ein Nerv im Hintern"

Nerv Hintern
Nerv Hintern(c) EPA (ROLAND�WEIHRAUCH)
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Pussy Riot und Wojna sind der Inbegriff des aggressivsten künstlerischen Protests der Gegenwart in Russland. Wie andere Künstler vor ihnen wehren sie sich gegen den Vorwurf der Provokation. Geendet hat diese in Russland fast immer hinter Gittern.

Österreichische Diplomaten können komplexe Inhalte mitunter verblüffend simplifizieren. „Das tut man einfach nicht“, meinte einer von ihnen in Moskau im Smalltalk über die russische Punkband Pussy Riot. Sie war bekanntlich Ende Februar des Vorjahres in der renommierten Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale überfallsartig aufgetreten und hatte in ihren Liedversen die Gottesmutter angefleht, Präsident Wladimir Putin von der Spitze des Staates zu vertreiben. Zwei der jungen Frauen sitzen mittlerweile im Straflager, eine ging frei. Alles in allem Stoff genug, um eine eingeschüchterte und eingefrorene Gesellschaft zu einem Diskurs über den eigenen Standort im Wertekoordinatensystem zu reanimieren. Aber brauchte es dazu den Griff zur Provokation, den sakrosankten Kirchenambo zu profanieren, was selbst vielen jener Russen aufstößt, die gar nicht an Gott glauben – was übrigens ohnehin nicht entscheidend ist, da ja laut Dostojewski jeder Russe gewissermaßen a priori christlich-orthodox ist? Nun, meint der Österreicher: „Das tut man einfach nicht.“

Was man so alles in einer Kirche tun kann, davon erzählt Pjotr Wersilow im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“: Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) Kirill etwa dürfe sehr wohl für den Verbleib des autoritären Putin beten. Auch dürfe er problemlos eine Uhr für zehntausende Dollars tragen. Und überhaupt sei die besagte Kathedrale, die von Stalin gesprengt worden war, mit Geldern von schweren Banditen der 1990er-Jahre wiedererrichtet worden, ohne dass etwas an Stalins Repression erinnern würde. Und da rege man sich auf, wenn eine Punkband ein Lied zum Besten gebe und gegen die zunehmende Verschmelzung von Staat und Kirche auftrete? Zumal das Ganze nichts mit Provokation zu tun habe, sondern nur mit Kunst.

Der 25-jährige Wersilow ist nicht der Mastermind von Pussy Riot. Aber er war involviert in die Konzeption und gilt seinerseits innerhalb der radikalen russischen Künstlergruppe Wojna („Krieg“) als tollkühner Aktionist, der die Konfrontation mit Institutionen wie dem Geheimdienst FSB nachgerade sucht. Und er ist der Mann der inhaftierten Pussy-Riot-Künstlerin Nadeschda Tolokonnikowa. Einmal am Tag ruft sie für 15 Minuten an und erkundigt sich nach dem Befinden der gemeinsamen Tochter. Direkt aus der Strafkolonie14 in der Republik Mordowien, knapp 500 km südöstlich von Moskau.


Oppositionelle Kunst. Tolokonnikowa selbst hat schon in ihrem Plädoyer vor der Verurteilung klargestellt, wie ihr Auftritt in der Kirche zu verstehen sei: keinesfalls als Verletzung religiöser Gefühle, sondern als einfacher politischer Protest; wörtlich, als „eine oppositionelle Kunst oder gewissermaßen eine Politik, die auf Formen zurückgegriffen hat, die von der Kunst ausgearbeitet worden sind“. Es sei eine Art bürgerlicher Aktivität unter den Bedingungen eines Systems, das über ein Jahrzehnt lang die grundlegenden Menschenrechte unterdrückt hat. „Schuld ist das autoritäre System.“

Diese Kausalkette und Argumentationslinie will auch Wersilow unterstrichen wissen, wie er im Gespräch sagt: „Die Kunst ihrerseits zielt auf keine Reaktion ab.“ Der Provokateur sei der andere, sprich das Regime. Das sei auch insofern logisch, als sich das Regime und seine Spezialeinsatzkräfte als Stärkere im Tauziehen sicher sein können, mit ihren Provokationen gegen den Bürger nichts zu riskieren: „Sie haben einfach mehr Ressourcen als die Provozierten.“

Dass die Punk-Band Pussy Riot und ihr Umfeld den Begriff Provokation „kategorisch ablehnen“, wie Wersilow es formuliert, hat wohl auch mit dem Umstand zu, dass Provokation in Russland reflexartig mit Revolution, politischem Umsturz, ja nahezu Erpressung jener staatlichen und religiösen Obrigkeit assoziiert wird, die als genauso sakrosankt gilt wie der Ambobereich in der Kathedrale. „Provokation“ ist demnach auch umgekehrt das Totschlagargument der Machthaber und wurde im Fall von Pussy Riot vom Kreml-Chef und Patriarchen abwärts auch konsequent skandiert, während die Justiz die Causa juristisch von einer einfachen Ordnungswidrigkeit weg zu „Rowdytum aus religiösem Hass“ hindrehte.

Einen solchen zu schüren waren bereits 2003 die Teilnehmer der Moskauer Ausstellung „Achtung, Religion!“ angeklagt worden. Putins Stern war damals erst im Erstrahlen, die Atmosphäre für die freie Meinungsäußerung stattdessen bereits im Eintrüben begriffen gewesen. Anna Altschuk, eine der Ausstellungsteilnehmerinnen nahm sich Jahre später das Leben, was ihr Mann, der Philosoph Michail Ryklin, mit den Belastungen des Gerichtsverfahrens in Verbindung bringt. Ryklin lehrt heute an der Humboldt-Universität in Berlin. „Achtung, Religion!“ sei gänzlich frei von Provokation gewesen, die Machthaber und die von ihnen protegierten orthodoxen Fundamentalisten hätten der Ausstellung diesen Stempel später aufgedrückt, erklärt Ryklin: „Bei Pussy Riot ist die Sache komplizierter, denn sie haben ihre Performance auf dem Gipfel der Protestwelle gestartet, als Putins Thron zu wackeln schien.“


Den Rahmen sprengen. Aber in jedem Fall müsse man sich die speziellen Gegebenheiten eines autoritären Systems vor Augen halten, betont Ryklin: Denn wenn die Machthaber selbst ständig den Gesetzesrahmen sprengen, dann halte es auch den Widerstand nicht im Rahmen der Galerien und Museen. „Dann verstummt die Kunst entweder, oder sie nimmt zu dem Zuflucht, was mancher auch Provokation nennen könnte.“

Um das Phänomen der Gruppen Pussy Riot und Wojna zu fassen, vergleicht Ryklin ihre Aktionen „eher mit den Aktionen urbaner Partisanen als mit einer konzeptionellen Kunst“. Pussy Riot selbst sehen sich indes als geistesverwandte Nachfolger der berühmten Oberiuten, jener avantgardistischen und wohlgemerkt provokanten Künstlervereinigung, deren namhafteste Vertreter, Alexandr Wwedenski und Daniil Charms, in Stalins Gefängnissen ums Leben kamen. Mit dem Preis des eigenen Lebens hätten die Meister des Absurden ungewollt bewiesen, dass ihre erfassende Wahrnehmung der Sinnlosigkeit und Unlogik einer ganzen Epoche „wie ein Nerv im Hintern richtig war“, sagte Tolokonnikowa vor Gericht und zitierte Wwedenski: „Angenehm ist uns das Unverständliche, das Unerklärliche unser Freund... Es kommt vor, dass mir zwei Reime einfallen, ein guter und ein schlechter, und ich wähle den schlechten, denn gerade er wird der richtige sein.“

Das Kunstkollektivmachte erstmals im Herbst 2011 im Zuge mehrerer öffentlicher Auftritte auf Plätzen von sich reden. Einem breiteren Publikum wurden Pussy Riot erst nach ihrer Aktion in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale vom 21.Februar 2012 bekannt, in der sie die Gottesmuttter um „Erlösung“ von Putin baten. Drei der vier Protagonistinnen wurden verhaftet, zwei sitzen eine Haftstrafe ab.

Die genaue Mitgliederzahl von Pussy Riot ist nicht bekannt, wird aber auf etwa ein Dutzend geschätzt. Die Aktivistinnen halten sich versteckt, weil sie eine Verfolgung durch die Justiz fürchten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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