Weil es nötig ist: Ein Appell

Weil noetig Appell
Weil noetig Appell(c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Warum unternimmt keiner etwas gegen Vordrängler und Laut-Telefonierer? Warum ist es ein Luxus, in der Straßenbahn nur aus dem Fenster zu sehen? Wann haben wir den Sinn für Ruhe, Muße, für uns und andere verloren?, fragt sich Angelika Kirchschlager.

Plötzlich Chefredakteurin also. Es ist eine außergewöhnliche Situation, wenn man gebeten wird, eine Zeitungsausgabe zu gestalten. Nach dem ersten großen Freiheitsgefühl kommt nämlich schnell der beängstigende Gedanke: Was soll ich schreiben, wenn scheinbar alles möglich ist? Diese einmalige Gelegenheit muss doch genützt werden, um in die Welt laut hinauszuschreien, was einem am Herzen liegt! Auch wenn die Antwort auf die Folgefrage – nämlich: Ist denn der ganzen Welt wichtig, was mir am Herzen liegt? – eindeutig „Nein“ lautet.

Und dennoch geht es heute um mein Thema, Ruhe – mit Rufzeichen. Es ist etwas, was viele Menschen beschäftigt, und diejenigen, die es nicht kümmert, die müsste es eigentlich erst recht betreffen. Denn gerade sie müssten wieder zur Besinnung kommen. Wortwörtlich. Denn ich vermisse jeden Tag mehr die Möglichkeit, meine Sinne am Leben zu erhalten. Mir fehlen natürliche Leerläufe, um zu „sinnieren“, sie sind dank erbarmungsloser Erreichbarkeit rund um die Uhr verschwunden. Eine Bim-Fahrt, bei der man nur beim Fenster hinausschaut, muss man sich schon gönnen. Und selbst dann nimmt man mit großer Wahrscheinlichkeit am Telefongespräch eines anderen teil.

Es braucht mehr Ruhe – nicht nur, um bei Sinnen zu bleiben, sondern auch, um sie zu schärfen: den Sinn für Anstand zum Beispiel. Oder für Humor. Den für Gerechtigkeit. Denn sich seiner Sinne zu entsinnen setzt zumindest ein Minimum an Bewusstsein voraus, das schwer zu erlangen ist, wenn man immer weniger Zeit still mit sich selbst verbringen kann. Warum habe ich immer öfter das Gefühl, von Aliens umgeben zu sein? Wir vernetzen uns mehr und mehr ins Unendliche und nehmen kaum wahr, was gerade vor unseren Augen geschieht. Wie viel Anteil kann ein Mensch überhaupt an der endlosen virtuellen Welt haben, wie viel gibt er dafür von seiner unmittelbar eigenen auf? Mit sich selbst zu sein ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Es ist ein Aufwand geworden, eine gar nicht kleine Anstrengung. Wie wirkt sich das aus? Vielleicht bleibt ja, weil der Sinn für sich selbst fehlt, auch der Sinn für die anderen immer öfter auf der Strecke: die Rücksicht. Ich frage mich: Warum unternimmt niemand etwas gegen die Auffahrer, die Vordrängler und Laut-Telefonierer? Muss wirklich per Gesetz geregelt werden, was menschenwürdiges Verhalten im Alltag ausmacht? Und welchen Wert haben 500 Facebook-Freunde, wenn ich den Menschen an der Kassa vor mir nicht mehr wahrnehme?

Vielleicht bin ich durch meinen Beruf gewohnt, an den Menschen an sich zu glauben, ihn ganz zu sehen. Deshalb traue ich mich auch noch, an ihn zu appellieren: Ruhe! Bitte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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