Rechtsakzeptanz im freien Fall: "Tummelplatz von Unanständigkeit"

Rechtsakzeptanz freien Fall Tummelplatz
Rechtsakzeptanz freien Fall Tummelplatz(c) APA/BARBARA GINDL (BARBARA GINDL)
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Am Montag werden die ersten "Alpbacher Rechtsgespräche" eröffnet. Zum Auftakt warnt Rechtspolitiker Pichler vor einem inakzeptablen Absturz der Rechtsakzeptanz.

Wien/Alpbach. „Rechtsakzeptanz im freien Fall?“ Diese Frage steht als Titel über den zweitägigen Alpbacher Rechtsgesprächen, die heute, Montag, eröffnet werden. Für Johannes W. Pichler, Direktor des Österreichischen Instituts für Rechtspolitik in Salzburg und Professor für Europäische Rechtsentwicklung in Graz, ist es allerdings gar keine Frage, sondern eine Feststellung: Ja, die Rechtsakzeptanz befinde sich im freien Fall, lautet seine These, und ihr dramatischer Absturz sei in einer Demokratie nicht mehr hinnehmbar.

Pichler ist einer der Vortragenden im ersten Panel der Rechtsgespräche. Schon Mitte der 1990er- Jahre hat er mit einer groß angelegten Rechtsakzeptanzstudie einen „besorgniserregenden“ Befund erstellt; anno 2012 liest er aus allen verfügbaren Umfragen von Eurostat über Justizministerium bis „Kronen Zeitung“ eine „desolate Wertschätzung der Politik als Rechtserzeuger und der Justiz als Rechtsanwender heraus. „Es mag die Hysterie eines alten Mannes sein“, sagt der 65-jährige „Beunruhiger vom Dienst“ zur „Presse“. Aber indem die Fiktion der Identität zwischen Rechtssetzer (Bevölkerung) und Rechtsadressat in sich zusammenbreche, drohe der Gesellschaft eine „Implosion“, eine totale Abwendung von der Politik.

Experten sind sich einig, dass die Unwirksamkeit einzelner Rechtsvorschriften – die Rettungsgasse auf Autobahnen mag dafür ein Beispiel sein – die Geltung des Rechts nicht hindert. „Geltungsbedingung ist vielmehr die Wirksamkeit der Rechtsordnung ,im Großen und Ganzen‘“, wie Clemens Jabloner, Verwaltungsgerichtshof-Präsident und ebenfalls Redner in Alpbach, formuliert. Weil aber eine Realisierung der Rechtsordnung nur über Zwang weder realistisch noch wünschenswert ist, bedürfte es zur Wirksamkeit des Rechts auch einer positiven inneren Einstellung zur Rechtsordnung.

Doch „die Spätmoderne setzt das Recht unter Druck“, stellt der Grazer Soziologe Manfred Prisching fest: „Es gibt eine Reihe von Charakteristika und Entwicklungen einer spätmodernen Gesellschaft, die das Verständnis für ein rechtsstaatliches Rahmenwerk mindern und die Folgebereitschaft der Staatsbürger reduzieren.“ Vom Recht werden etwa Kriterien erwartet, die das Zulässige vom Unzulässigen scheiden. Doch diese Unterscheidung selbst werde in der „Anything-goes-Gesellschaft“ nicht mehr so ohne Weiteres als zulässig angesehen. Ein Beispiel: Das „Normalmodell“ einer Familie, das vor 30 Jahren noch gängig war, trägt nicht mehr; Alternativen dazu dürfen nicht diskriminiert werden. Wie die Religion keine normative Bezugsgröße mehr ist (s. die Beschneidungsdiskussion) wird nach Prischings Worten auch das Recht unplausibel: „Jederzeit ist die Frage zu stellen, warum es eigentlich gelten soll.“

Liechtenstein und Provisionen

Ein großes Problem sieht der Soziologe auch in der wachsenden Komplexität der Rechtsordnung: Sie werde fremd, unzugänglich, das „Spiel dubioser Experten“. Das Management von Rechtsproblemen komme in den Ruch einer Trickserei. Prisching: „Wer besser trickst, der hat seine Firmen in Liechtenstein, der kann sich Steuer ersparen und Provisionen kassieren. Die besseren Rechtsmanipulateure verdienen die großen Gelder, gehören zur neuen Oberschicht.“ Recht verliere seine Aura, es werde zum Tummelplatz von Unanständigkeit.

Gibt es Auswege aus der Krise des Rechts? Pichler plädiert, sofern es nicht ohnehin schon zu spät ist und wir unaufhaltsam neoautoritären Zeiten entgegengehen, für eine Wiederannäherung von Rechtserzeugern und -adressaten, sprich: für mehr direkte Demokratie. Deren „maßvollem Ausbau“ kann auch Jabloner etwas abgewinnen, solange ein positiver Willensakt des Parlaments unverzichtbare Bedingung der Gesetzgebung bleibe. Jabloner will die Rechtsordnung besser strukturiert und die Einsicht in die soziale Funktion des Rechts – auch in den Schulen – besser vermittelt sehen; die staatliche Vollziehung soll – etwa im Gefolge der „problematischen StPO-Reform“, die die Strafverfolgung zunächst nicht gerade effektiver gemacht hat, als Gegengewicht zu privaten juristischen Apparaten gestärkt werden.

Prisching warnt indes allgemein vor einer „Selbsterstickung von Gesellschaften, wenn diese Problemlösungen nur in steigender Komplexität suchen und deshalb in eine Explosion von Transaktionskosten hineingeraten“, sodass ein rapid wachsender Teil der Erträge für Systemwartung und Aufrechterhaltung aufgewendet werden müsse. Für Prisching droht den europäischen Länder in der Spätmoderne dieses Schicksal.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2012)

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