Rütteln an Tabu: Kinder notfalls einsperren

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Täter unter 14. Familienrichter und Jugendanwälte rufen nach Möglichkeiten, Strafunmündige kurzzeitig für Therapiezwecke einzusperren.

Wien. Die Justizpolitik der nächsten Regierung wird sich einem heiklen Thema widmen müssen: der Kriminalität in Kindheit und früher Jugend. Nicht kleine Diebstähle im Supermarkt sind das Problem, sondern eine anscheinend wachsende Gewaltbereitschaft junger Leute, die körperlich schneller wachsen, als sie geistig reifen. Streng genommen kann man gar nicht von Kriminalität sprechen, denn unter 14-Jährige sind – jedenfalls bisher – nicht strafmündig. Daraus folgt aber, dass alle Versuche scheitern, abseits familiärer Strukturen mit Zwang auf die Heranwachsenden einzuwirken. Das wird in der Praxis als immer größeres Problem erlebt; hinter den Kulissen laufen bereits Bemühungen, den Status quo zu ändern. Noch ist es ein Tabubruch, vom Einsperren zu reden, und doch ist genau das das Thema.

Richter „sehen, was los ist“

„Wir haben für unter 14-Jährige keine Handhabe, niemand fühlt sich zuständig“, sagt Doris Täubel-Weinreich, Vorsitzende der Fachgruppe Familienrecht der Richtervereinigung, zur „Presse“. Täubel-Weinreich erlebt die Hilflosigkeit tagtäglich: etwa wenn eine 13,5-Jährige allein heuer schon drei Anzeigen kassiert hat, aber „wir es nicht einmal schaffen, sie zur Einvernahme zur Polizei zu bringen“. Das Mädchen laufe immer davon, und „es passiert nichts“. Sondern: Die Polizei schickt den Akt zur Staatsanwaltschaft, diese stellt fest, die Verdächtige ist nicht strafmündig, und dann kommt der Akt zum Pflegschaftsgericht. „Wir sammeln das“, sagt Täubel-Weinreich, „und da sieht man, was los ist.“

6513 Anzeigen gegen Kinder bis 14 gab es österreichweit 2012; davon betrafen 2103 Delikte gegen Leib und Leben (der Auftragsmord durch einen Unmündigen im letzten österreichischen Tatort war freilich Fiktion). Die Familienrichterin stößt sich nicht am Ladendiebstahl als Mutprobe und nicht an harmlosen Raufereien. „Aber wenn jemand auf ein Opfer eintritt, das schon auf dem Boden liegt, dann ist das nicht okay“, so Täubel-Weinreich.

„Tatsächlich unternehmen immer mehr unmündige Kinder strafbare Handlungen“, bestätigt auch Max Friedrich, soeben emeritierter Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien. Es gebe eine Gruppe hoch aggressiver junger Täter. „Sie haben keine Brems-, Kontroll- und Steuermechanismen, sind echt verwahrlost und erkennen das Unrecht der Tat nicht, weil sie es weder vom Elternhaus erklärt bekommen haben noch eine andere Erziehung geholfen hat.“ Friedrich vermisst eine passende Versorgung für derartig „schwierige, aber nicht kranke Kinder“.

Für Kranke gibt es Behandlungsmöglichkeiten samt Ermächtigung an den Arzt, unter Richteraufsicht eine zeitlich begrenzte zwangsweise Unterbringung anzuordnen. „Dazu muss aber eine psychiatrische Erkrankung vorliegen“, sagt Ralf Gößler, Primar am Neurologischen Zentrum Rosenhügel. „Dass ein Kind zu schwierig ist, ist keine Indikation.“ Erst bei eindeutiger Fremd- oder Selbstgefährdung bis hin zur Suizidalität sei an eine Aufnahme zur Krisenintervention zu denken, wobei Gößler warnt: „Es gibt kein Medikament, das Delinquenz behandelt.“ Bei jeder medizinischen Behandlung müssten daher auch die pädagogische und soziale Situation mitbedacht werden.

Familienrichterin Täubel-Weinreich ist ebenfalls strikt dagegen, Problemfälle ohne medizinische Indikation in die Psychiatrie zu schicken. „Das zeigt nur eine gewisse Hilflosigkeit.“ Sie tritt dafür ein, spezielle Einrichtungen mit intensiver Betreuung zu schaffen, in denen Kinder ohne funktionierende Familie auch gegen ihren Willen am Weggehen gehindert werden können. „Wir müssen den Kindern Grenzen setzen können“, sagt die Richterin. Sie redet nicht einer Herabsetzung der Strafmündigkeit das Wort, wie sie in der Schweiz – auf zehn Jahre – erfolgte. Im Gegenteil. Kinder und Jugendliche sollten, noch bevor sie straffällig werden, die Chance bekommen, die kriminelle Karriere zu vermeiden: mit einer intensiven, maßgeschneiderten Betreuung unter richterlicher Kontrolle. „Das darf kein neues Wilhelminenberg werden“, fügt Täubel-Weinreich unter Hinweis auf jenes 1977 geschlossene Wiener Kinderheim hinzu, in dem es zu schwersten Übergriffen gekommen ist.

Erlebnispädagogik zu Wasser

Auch Herbert Siegrist, Mitglied im Vorstand des Dachverbands der österreichischen Jugendwohlfahrtsträger, ortet akuten Handlungsbedarf. „Wenn wir Kinder ernst nehmen in ihrem Störungsbild, dann hat sich da momentan etwas zu verändern“, sagt Siegrist. Man werde nicht ohne die gesetzliche Möglichkeit auskommen, auf unter 14-Jährige gewissen Zwang auszuüben. Und: „Wir brauchen eine ressourcenstarke Kooperation von Justiz, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendämtern.“ Das von Siegrist betreute Segelschiff Noah, auf dem pädagogisch problematische Kinder sich auf freiwilliger Basis einer Erlebnispädagogik auf offenem Meer aussetzen können, ist ein alternativer Ansatz, der nur in ganz besonderen Fällen passt.

Unterstützt wird die Forderung nach Einrichtungen, die zeitweise auch verschlossen werden können, von den Kinder- und Jugendanwälten Österreichs. Sie haben sich vorige Woche bei einem Treffen für Überlegungen in diese Richtung ausgesprochen. Anton Schmid, Kinder- und Jugendanwalt in Wien, nennt ein Beispiel: „Bei einem 13-jährigen Sexualstraftäter muss man überlegen, wie man ihn und seine Umgebung schützt.“ Um mittels sozialtherapeutischer Maßnahmen tragfähige Beziehungen aufzubauen, könne es schon nötig sein, für 14 Tage oder drei Wochen „den Schlüssel umzudrehen“.

Auch im Justizministerium denkt man bereits darüber nach, gewisse Freiheitsbeschränkungen nach Art eines Hausarrests zu ermöglichen. Der Endbericht der Taskforce Jugend-U-Haft, die bessere Haftbedingungen junger Verdächtiger anstrebt, wird sich dem Vernehmen nach auch mit den unter 14-Jährigen befassen.

Ruf nach mehr Psychotherapie

Kinderpsychiater Ralf Gößler ortet einen „Diskussionsprozess“ zur Frage, inwiefern es eine strengere gesetzliche Reglementierung geben soll für Kinder, die schwer strukturierbar sind und sich jeder Therapie entziehen. In Deutschland ist eine Unterbringung mit Freiheitsentziehung zum Wohl des Kindes mit gerichtlicher Genehmigung möglich – insbesondere, aber nicht nur, zur Abwendung einer erheblichen Selbst- und Fremdgefährdung. Vehement plädiert Gößler dafür, Kindern mehr Psychotherapie auf Krankenschein zu ermöglichen. „Die Kostenübernahme für Minderjährige sollte kein Thema sein.“

Das Wiener Jugendamt hält indessen unbeirrt an einer freiheitsbetonten Pädagogik fest. „Die Forderung nach Einsperren unter welchen Bedingungen immer ist bekannt“, sagt Herta Staffa, Sprecherin der MA 11 („Magelf“). Es gebe gewiss eine Gruppe junger Leute, die „ein bissl massiver unterwegs sind. Aber was würde Einsperren nützen?“ Staffa bringt die Wiener Haltung so auf den Punkt: „Wir sind halt der Meinung, dass man im Käfig schlecht fliegen lernen kann.“

IN ZAHLEN

Junge Verdächtige. Die Zahl der Anzeigen wegen Taten von Personen unter 14 Jahren sind in den vergangenen zehn Jahren von 5493 auf 6513 gestiegen. Die Anzeigen wegen Delikten gegen Leib und Leben (v. a. Körperverletzung) sind in den Jahren 2006 bis 2008 auf ein deutlich höheres Niveau gestiegen. Das kann neben einem Anstieg der Delinquenz auch auf ein geändertes Anzeigeverhalten zurückzuführen sein. Die extrem hohe Zahl von Anzeigen wegen Delikten gegen fremdes Vermögen 2006 dürfte auf die Ausforschung einer Kinderbande zurückgehen, der etliche hundert Diebstähle angelastet wurden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2013)

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