Strafprozess: Sachverständige auf losem Grund

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Dass die Übernahme des Sachverständigen der Anklage durch das Gericht problematisch ist, gilt als bekannt. Die Konsequenz, dass in Fällen mit EU-Bezug darauf verzichtet werden müsste, wurde bisher nicht gezogen.

Wien. Die EU-Grundrechtecharta könnte mit ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit die österreichischen Strafgerichte in eine äußerst unangenehme Lage bringen. Es geht um die umstrittene Frage, ob die von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren eingesetzten Sachverständigen auch in der Hauptverhandlung als dominierende Experten eingesetzt werden dürfen. Das ist in Hinblick auf die gebotene Fairness des Verfahrens problematisch, weil ein Sachverständiger der Verteidigung bei Weitem nicht die gleiche Position hat. Die Strafprozessordnung lässt es jedoch ausdrücklich zu. Weil aber die Grundrechtecharta, die unter anderem das faire Verfahren garantiert, im Anwendungsbereich des EU-Rechts unmittelbar anwendbar ist, könnten sich die Gerichte gezwungen sehen, die Bestimmung der Strafprozessordnung außer Acht zu lassen und Befangenheitsanträgen von Angeklagten stattzugeben.

Die erst kürzlich in Schriftform veröffentlichten Urteile des Obersten Gerichtshofs (13 Os 131/12g u.a.) über die Hypo-Vorzugsaktien-Deals 2004 liefern ein Beispiel. Der OGH bestätigte die Verurteilung zweier ehemaliger Vorstände der Hypo und zweier seinerzeitiger Berater wegen Untreue durch das LG Klagenfurt. Nach dem Urteil des Erstgerichts hätten alle vier gewusst, dass durch die damalige Konstruktion keine Eigenmittel auf Konzernebene der Hypo geschaffen wurden, daher das Geschäft nicht zu deren Vorteil war, der Abschluss nicht von der Befugnis der Vorstände umfasst war, diese somit ihre Befugnisse missbrauchten. Das Erstgericht stützte sich auf das Gutachten des Sachverständigen, der bereits durch sein Gutachten im Ermittlungsverfahren als von der Staatsanwaltschaft bestellter Sachverständiger die Grundlage für die Anklage geliefert hatte, und in seinen rechtlichen Ausführungen zu den Eigenmittelvorschriften für Banken zusätzlich „auf eine Fülle von einvernommen Zeugen“.

Die Eigenmittelvorschriften für Banken beruhen weitgehend auf EU-Recht. Im Sinn der Judikatur des EuGH (Rs. Akerberg Fransson, C-617/10 und Melloni, C-399/11) haben das LG Klagenfurt und der OGH daher im Anwendungsbereich des EU-Rechts entschieden. Das hat für den Grundrechtsschutz große Bedeutung: Jedes Gericht eines Mitgliedstaates muss im Anwendungsbereich des EU-Rechts eine nationale Rechtsnorm unangewendet lassen, wenn deren Anwendung die Grundrechtecharta verletzen würde. Bei Widersprüchen zum nationalen Verfassungsrecht oder zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verhält es sich anders: Da muss jedes Gericht das Gesetz trotzdem anwenden, solange es nicht vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wird.

Die Angeklagten hatten in erster Instanz den dem Hauptverfahren beigezogenen Sachverständigen „auf das Vehementeste bekämpft“. Das LG Klagenfurt verwies jedoch ohne weitere beweiswürdigende Ausführungen auf die Strafprozessordnung: Nach §126/4 kann im Hauptverfahren die Befangenheit eines Sachverständigen nicht bloß mit der Begründung geltend gemacht werden, dass dieser bereits im Ermittlungsverfahren tätig war.

Beweisanträge abgewiesen

Die Angeklagten hatten auch die mangelnde Fachkenntnis des Sachverständigen bemängelt und erfolglos die Bestellung eines Sachverständigen aus dem Bankwesen beantragt. Außerdem hatten sie mehrere bekannte Experten für Bank- und Rechnungswesen als Zeugen für den Nachweis beantragt, dass entgegen dem Gutachten des Sachverständigen sehr wohl Konzerneigenmittel geschaffen worden waren. Der OGH rechtfertigte die Abweisung dieser Beweisanträge durch das Erstgericht damit, dass gemäß §154/1 StPO eine Zeugenvernehmung nur Wahrnehmungen von Tatsachen zum Gegenstand hat, nicht aber Schlussfolgerungen oder Wertungen. Das Erstgericht hatte sich für die Beurteilung der Eigenmittelfrage aber sehr wohl auch auf Zeugenaussagen berufen.

Das Erstgericht stützt seine wesentlichen Feststellungen zum fehlenden Eigenmittelcharakter also a) auf einen Sachverständigen, der schon im Ermittlungsverfahren als Sachverständiger der Anklage tätig war; b) trotzt Rüge trifft das Gericht keine Feststellungen darüber, dass der Sachverständige überhaupt die Qualitätskriterien für Bankprüfer erfüllt, und c) stützt das Erstgericht Schlussfolgerungen und Wertungen zum fehlenden Eigenmittelcharakter auf diesen Sachverständigen und „eine Fülle von einvernommenen Zeugen“. Gleichzeitig aber werden von den Angeklagten als Zeugen beantragte ausgewiesene Experten nicht zugelassen, weil „Schlussfolgerungen und Wertungen“ nicht Aufgabe einer Zeugeneinvernahme sind.

Gebot der Waffengleichheit

Schon einzelne dieser Faktoren und erst recht ihre Kombination geben zu Zweifeln Anlass, ob das (durch Art 6 EMRK und Art 47 GRC) verbriefte Recht auf ein faires Verfahren – dazu gehört auch das Gebot der Waffengleichheit – gewahrt wurde. Da der vorliegende Fall im Anwendungsbereich des EU-Rechts liegt, hätte das Erstgericht meines Erachtens die Unvereinbarkeit der Tätigkeit des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren für die Staatsanwaltschaft mit der späteren Bestellung zum „objektiven Gerichtssachverständigen“ erkennen und den Befangenheitsanträgen stattgeben müssen (und §126/4 letzter Satz StPO nicht anwenden dürfen).


Mag. Liane Hirschbrich LL.M. ist Rechtsanwältin in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2013)

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