Sprache fördert die Schuldvermutung

(c) Clemens Fabry
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In der Terminologie des Strafprozesses sind Nachbesserungen dringend geboten – und zwar nicht bloß die von Justizminister Brandstetter angekündigte.

Wien. Praktiker des Strafrechts kommunizieren regelmäßig im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit, die grundsätzlich gute (Sprach-)Lösungen anbietet. Eine Aussage ist demnach wahr, wenn sie einem existierenden Sachverhalt entspricht. Im Umgang mit der Wirklichkeit ist dennoch Vorsicht geboten, wie andere Wahrheitstheorien belegen.

Wer beschuldigt wird, ist Beschuldigter. Wer verletzt oder geschädigt wird, ist Verletzter oder Geschädigter. Gibt es eine Anklage, sprechen wir vom Angeklagten. Wenn sich jedoch die juristische Fachsprache von der Umgangssprache zu weit entfernt, kann es gefährlich werden. Missverständnisse treten auf, Irrtümer sind die Folge. Im Verbund mit komplexitätsreduzierenden Wirklichkeitskonstruktionen der Medien kann solcherart eine unscharfe Begrifflichkeit mehr Verwirrung als Klarheit schaffen. Dieses Schicksal hat den Beschuldigten- und Opferbegriff ereilt. Was ist geschehen?

Der Gesetzgeber des 2008 in Kraft getretenen Strafprozessreformgesetzes hat eine Pionierleistung erbracht. Die aus 1873 stammende Struktur des alten zweigeteilten Vorverfahrens, bestehend aus sicherheitsbehördlichen Vorerhebungen und richterlicher Voruntersuchung, wurde durch ein staatsanwaltlich geleitetes, einheitliches Ermittlungsverfahren ersetzt. International herzeigbar sind grundsätzlich auch die Verbesserungen im Bereich der Rechte von Beschuldigten und Geschädigten. Terminologisch sind aber Nachbesserungen angesagt, ja dringend geboten.

Angezeigt ist gleich beschuldigt

In dieses Horn stößt auch der neue Justizminister Wolfgang Brandstetter. Vorige Woche gab er bekannt, er plane eine Reform, dass nach einer Anzeige nicht jeder gleich als Beschuldigter gelten soll. Dabei war und ist die Einführung des sogenannten materiellen Beschuldigtenbegriffs eine große Errungenschaft. Er stellt darauf ab, ob wegen des Verdachts einer Straftat gegen eine Person ermittelt oder Zwang ausgeübt wird. Dieser neue Beschuldigtenbegriff markiert den Beginn des Strafverfahrens und bewirkt die Gewährleistung der Beschuldigtenrechte von Anfang an.

Die neue Rechtslage hat zur Folge, dass bei Anzeigenerstattung jede – noch so haltlos – verdächtigte Person Beschuldigtenstatus hat. Das „Entertainmentspiel“ der Medien, nämlich Sensationalisierung, Skandalisierung, Moralisierung und Personalisierung, brachte jedoch eine unangenehme Entwicklung. Jedermann läuft Gefahr, bei noch so haltlosen Anzeigen medial als Beschuldigter vorgeführt zu werden.

Der OGH (17 Os 13/13k) hat zwar klargestellt, dass das Lesen einer Strafanzeige durch die Staatsanwaltschaft kein Ermitteln ist und ein Ermittlungsverfahren nicht in Gang setzt. Eine neue Begrifflichkeit für haltlose Verdächtigungen hat diese Judikatur jedoch nicht zur Folge. Die Initiative des Justizministeriums, in derartigen Fällen von einer „verdächtigen Person“ zu sprechen, ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Die Bezeichnung „angezeigte Person bzw. Angezeigter“ erscheint jedoch überzeugender. Die Geltung aller Verteidigungsrechte auch für „bloß“ angezeigte Personen sollte dabei ebenso außer Streit stehen wie die Beibehaltung der Einheitlichkeit des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens.

Schnitzer des Gesetzgebers

Im Bereich der Geschädigtenrechte hat der Gesetzgeber einen großen „Sprachschnitzer“ zu verantworten. Die Begriffe Geschädigter bzw. Verletzter wurden bekanntlich durch jenen des Opfers ersetzt. Ganz so, als stünde ein Opferstatus von Betroffenen schon zu Beginn und nicht erst nach Rechtskraft eines Strafurteils fest. Sprache schafft Wirklichkeit – Opferprätendenten gleich Opfer zu nennen geht entschieden zu weit, emotionalisiert und verwirrt ohne Notwendigkeit. Wenn, was vorkommt, ein „Opfer“ lügt, kann ja auch der Beschuldigte Opfer sein.

Der Vorstand der Vereinigung Österreichischer StarfverteidigerInnen hat sich daher nach dem 12.Österreichischen StrafverteidigerInnentag in Salzburg in der vergangenen Woche darüber verständigt, dass der Begriff „Opfer“ die Unschuldsvermutung verletzt und durch den Begriff „von einer strafbaren Handlung betroffene Person“ oder eine inhaltlich vergleichbare Bezeichnung, die nicht von vornherein eine Schuldvermutung zum Nachteil einer angezeigten oder beschuldigten Personen enthält, zu ersetzen ist. Konkret vorgeschlagen wird für Opferprätendenten der Begriff „betroffener Zeuge“ oder „privatbeteiligte Person“.

Im Übrigen wurde in Salzburg die Rechtsstellung von mutmaßlich Verletzten als „Privatbeteiligte“ mit Beweisantragsrecht und Rechtsmittelbefugnis nachhaltig infrage gestellt. Wie Anlassfälle zeigen, lässt sich die Privatbeteiligung des geltenden Rechts vortrefflich, insbesondere bei Vermögensdelikten, für Verfahrensverzögerungen und als Instrument zur Ausübung von Druck einsetzen, um zu einer zivilrechtlichen Anspruchsbefriedigung im Strafverfahren zu gelangen. Der Strafprozess dient aber primär der Feststellung der (Nicht-)Schuld des Beschuldigten und bejahendenfalls der Verhängung einer Sanktion. Die Strafverteidigervereinigung hat überdies vorgeschlagen, zur Sicherstellung einer Erfüllung der Zeugenpflicht und zur Vermeidung einer Beeinflussung der eigenen Erinnerung Opferprätendenten Akteneinsicht erst dann zu gewähren, wenn die Ermittlungshandlungen abgeschlossen sind, jedenfalls aber erst nach Abschluss ihrer Einvernahme als Zeuge.


Richard Soyer, Rechtsanwalt in Wien und Strafrechtsprofessor an der JKU Linz, ist Sprecher der Vereinigung Österreichischer StrafverteidgerInnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2014)

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