Fahrt auf Sperrfläche: Null Vorrang

(c) Clemens FABRY
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Oberster Gerichtshof stellt klar: Wer beim Überholen eine Verkehrsfläche benützt, die gar nicht befahren werden darf, kann sich nicht auf die Vorrangregeln berufen.

Wien. An einem regnerischen Novembertag 2010 ereignete sich auf dem Wiener Rennweg ein schwerer Unfall: Ein stadteinwärts fahrender Mopedlenker stieß eine querende Radfahrerin nieder. Sie, eine Lehrerin, erlitt massive Verletzungen des Kopfes, brach sich ein Schlüsselbein und prellte sich Lunge und Knie. Die Frau und auch ihre – am Unfall nicht beteiligte – jüngste Tochter litten lange unter den Folgen und erst nach knapp zwei Jahren konnte die Frau wieder eine volle Lehrverpflichtung wahrnehmen.

Dass der motorisierte Fahrer (auch) rechtlich nicht ganz ungeschoren davonkommen würde, obwohl er sich auf der bevorrangten Straße bewegt hatte, war ihm und seiner Versicherung klar: Die Haftung der beiden Beklagten zu zwei Dritteln wurde durch ein Teilanerkenntnisurteil bereits in erster Instanz außer Streit gestellt. Die Auseinandersetzung um das letzte Drittel hat nun der Oberste Gerichtshof (OGH) entschieden: Auch dafür ist der Mopedlenker verantwortlich, die Haftpflichtversicherung zahlungspflichtig.

Vorbei an stehender Kolonne

Warum? Das Moped näherte sich damals der Unfallstelle nicht irgendwie, sondern auf streng verbotene Weise: jenseits einer Sperrlinie im Gleisbereich der Straßenbahnlinie 71, direkt vor der Kreuzung mit der Stanislausgasse sogar auf einer Sperrfläche. Die Fahrbahn Richtung Stadt war nämlich durch eine Autokolonne verstellt. Bloß bei der Einmündung der kleinen Quergasse ließ ein Fahrer wie vorgeschrieben eine Durchfahrt frei. Und durch diese hindurch wollte die von rechts kommende Radfahrerin den Rennweg beherzt queren, nachdem sie angehalten und mit dem Autolenker Blickkontakt gefunden hatte. Doch da kam unvermutet das Moped angerollt, und weder dessen Fahrer noch die Lehrerin konnten so reagieren, dass sie nicht kollidiert wären.

Von der Verletzten auf Schadenersatz in Höhe von 18.961,31 Euro geklagt, wendeten die Prozessgegner ein Mitverschulden der Lehrerin ein: Sie hätte sich, so meinten sie, nur langsam in die Kreuzung „vortasten“ dürfen. Während das Landesgericht für Zivilrechtssachen als Erstgericht – über das Teilanerkenntnis hinaus – aber den Mopedlenker als Alleinschuldigen identifizierte, sah das Oberlandesgericht Wien die Frau zu einem Drittel mitschuldig. Hätte sie sich langsam in die Kreuzung vorgetastet, dann hätte sie das Moped rechtzeitig gesehen, lautete die Begründung der zweiten Instanz.

„Krasse Verkehrswidrigkeit“

Das Berufungsgericht meinte, es gebe keine gesicherte Rechtsprechung zur Frage, ab wann eine derart „krasse Verkehrswidrigkeit“ vorliege, dass der Vorrang komplett verloren gehe. Also ließ es eine ordentliche Revision der Klägerin an den OGH zu. Mit dem Bemerken, dass das Oberlandesgericht die bisherige Judikatur des OGH nicht beachtet habe, folgte der Gerichtshof der Revision.

„Ein Verkehrsteilnehmer, der eine Verkehrsfläche benutzt, die überhaupt nicht befahren werden darf, kann sich nicht auf die Vorrangregel berufen“, sagte der OGH nicht zum ersten Mal. Eine frühere Rechtsmeinung, wonach bevorrangte Fahrer selbst dann nicht ihren Vorrang verlieren, wenn sie beim Überholen eine Sperrfläche überfahren, werde schon länger nicht mehr in dieser allgemeinen Form aufrechterhalten.

„Auch im vorliegenden Fall musste die Klägerin mit im Gleisbereich fahrenden und die Sperrfläche überfahrenden Verkehrsteilnehmern auf dem an sich bevorrangten Rennweg nicht rechnen. Da sie den Zweitbeklagten und sein verkehrswidriges Fahrmanöver bis unmittelbar vor der Kollision nicht wahrnehmen konnte, war ihr auch eine unfallverhütende Reaktion nicht mehr möglich, sodass vom Alleinverschulden des Zweitbeklagten auszugehen ist“ (2 Ob 197/13d). Vortasten musste sich die Lehrerin nicht.

Auch der Einwand der beiden Beklagten, dass sich ein einspuriges Fahrzeug auch diesseits der Sperrlinie entlang der Kolonne hätte vorschlängeln können, zählte nicht: schon deshalb, weil sich diese Gefahr hier nicht verwirklicht hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2014)

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