Der Pflichtteil hat seine Berechtigung verloren

  • Drucken

Das Pflichtteilsrecht gibt Angehörigen Anspruch auf einen Teil des Erbes. Der einstige Zweck, den Unterhalt zu sichern, ist weitgehend überholt, der Eingriff ins Eigentum fragwürdig. Ein Appell zur Abschaffung.

WIEN. Die Aufhebung der Erbschaftssteuer durch den Verfassungsgerichtshof hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Erben gelenkt. Dieses Interesse soll nun auf eine grundsätzliche materielle Frage gelenkt werden – das Pflichtteilsrecht.

Die Existenz des Pflichtteils dürfte allgemein bekannt sein: Auf Grund zwingender gesetzlicher Anordnung müssen bestimmte nahe Angehörige notfalls auch gegen den Willen des Erblassers einen Teil des Erbes erhalten. Schon der Kreis der Berechtigten birgt allerdings Überraschungen: mag das Pflichtteilsrecht der Kinder und des Ehegatten vielen einleuchten, wird die meisten verwundern, dass ein kinderloser Erblasser sogar seine Eltern bedenken muss.

In den letzten Jahren hat eine von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Diskussion über eine Reform des Pflichtteilsrechts stattgefunden. Im Vorjahr legte eine Arbeitsgruppe einen Vorschlag vor, der die bedeutsamen KMU (kleine und mittelgroße Unternehmen) vor der pflichtteilsbedingten Gefahr einer Zerschlagung bewahren soll (Heinz Krejci, Rechtspanorama vom 6. November 2006). Dieser „kleine Reformvorschlag“ stellt die grundsätzliche Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts mit Hinweis auf die ablehnende Haltung „maßgeblicher politischer Kräfte“ nicht in Frage. Wir bitten diese geheimnisvollen Kräfte vor den Vorhang, denn: Sieht man von metaphysischen subjektiven Wertvorstellungen ab, existiert kein nachvollziehbarer Grund für das Pflichtteilsrecht.

Das Pflichtteilsrecht stammt im Kern aus dem Jahre 1811 – die Lebenserwartung lag weit unter der heutigen, und der Weg zu Grundrechten war noch weit. Der Pflichtteil sollte den Unterhalt der damals meist jugendlichen Hinterbliebenen sichern. Heute stehen die typischen Parteien eines Pflichtteilsprozesses kurz vor der Frühpension, ihre Versorgung wird durch andere Rechtsinstitute (Unterhaltsrecht, öffentliche Versorgung) abgesichert. Ungeachtet des Wegfalls seines einstigen Zwecks beschränkt das Pflichtteilsrecht nach wie vor den Erblasser darin, über sein Vermögen von Todes wegen zu disponieren. Die Zeugung eines Kindes führt so zur „Enteignung“ der Hälfte des Vermögens. Dabei sind Alter und Bedürftigkeit des Kindes genauso irrelevant wie die Größe des Vermögens: das Kind bekommt die Hälfte.

Allein im Recht der(s) Witwe(rs) auf die Ehewohnung erfüllt das Pflichtteilsrecht noch Versorgungsbedürfnisse. Rechtfertigt dieser Aspekt, der auch gesondert normiert werden könnte, den beschriebenen umfassenden Eingriff in die verfassungsgesetzlich gesicherte Position des Erblassers (Grundrecht auf Eigentum, Gleichheitsgrundsatz)? Wir bezweifeln dies.

Das Pflichtteilsrecht beeinträchtigt nicht nur den Erblasser. Auch Dritte kommen unter Umständen zum Handkuss: Komplizierte Anrechnungsregeln geben dem Pflichtteilsberechtigten die Möglichkeit, bestimmte Zuwendungen des Erblassers unter Lebenden aufzurollen. Schenkungen an andere Pflichtteilsberechtigte werden gar unbefristet zum Prozessgegenstand. Sie können dazu führen, dass andere Beschenkte unabhängig von ihrer Kenntnis der Verhältnisse bezahlen müssen – eine kuriose Situation.

Notverkäufe vernichten Werte

Das Pflichtteilsrecht beeinträchtigt aber auch die Volkswirtschaft, worin das Leitmotiv der genannten Arbeitsgruppe lag: Wendet der Erblasser dem Noterben nicht freiwillig den Anteil zu, hat dieser einen sofort fälligen Geldanspruch gegen den Erben. Fehlt Liquidität, müssen Vermögenswerte zu Geld gemacht werden. Solche Notverkäufe führen nicht selten zur Zerschlagung und damit zur Vernichtung von Vermögenswerten (Versteigerung der Liegenschaft, Veräußerung des Unternehmens).

Soziale Ungerechtigkeit

Die Realität deckt auch die soziale Ungerechtigkeit des Pflichtteilsrechts auf: Wer es sich leisten kann, versucht oft, sein Lebenswerk durch den aufwendigen Einsatz von Beratern so weit wie möglich vor den Pflichtteilsberechtigten zu „retten“ (besonderer beliebt ist die Privatstiftung, die ihre diesbezügliche Probe vor dem Obersten Gerichtshof freilich erst bestehen muss). Die Mehrheit hat diese Möglichkeit nicht. Ist eine Rechtslage tatsächlich akzeptabel, die begüterten und umsichtigen Personen die Vermeidung der Enteignung gestattet, bei der breiten Masse aber mit voller Härte zuschlägt?Mit der Abschaffung des Pflichtteilsrechts würde den Gerichten und Parteien viel erspart. Scheidung und Pflichtteilsstreit werden regelmäßig besonders emotional. Am Ende stehen ein Urteil und zerrüttete Verhältnisse.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich ist die Geltendmachung des Pflichtteils legitim. Hier geht es allein um die Aufdeckung der Grundsatzfrage: warum soll mir ein Stück vom Kuchen zustehen, den mein Vater allein gebacken hat? Habe ich ihn unterstützt, gibt es für eine Gegenleistung andere Anspruchsgrundlagen, die auch den Umfang meiner Unterstützung berücksichtigen. Brauche ich selbst (gerechtfertigt) noch Unterstützung, sichert mich das Unterhaltsrecht ab.

Die Rechtswissenschaft (vornehmlich Martin Schauer) hat bereits die notwendigen Vorarbeiten geliefert. Öffentlicher Diskurs und die Politik sind nun am Zug. Die Verteidiger des Pflichtteils seien ersucht, überzeugende Argumente vorzulegen. Wir konnten bisher keines entdecken.

a. Univ.-Prof. Dr. Christian Rabl ist Rechtsanwalt bei Kosch & Partner Rechtsanwälte; Dr. Martin Spitzer ist Univ.-Ass. am Institut für Zivilrecht der Universität Wien.

STICHWORT

Der Pflichtteil kommt zum Tragen, wenn ein Verstorbener ein Testament geschrieben hat und dabei nahe Angehörige nicht einmal mit der Hälfte dessen bedacht hat, was ihnen bei gesetzlicher Erbfolge zufiele.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.