Im Haifischbecken der ökonomisch Stärkeren

Kirchhof, vice-president of Germany´s Constitutional Court, sits next to judge Eichberger and judge Gaier as they attend an inheritance tax law trial at Germany´s Constitutional Court in Karlsruhe
Kirchhof, vice-president of Germany´s Constitutional Court, sits next to judge Eichberger and judge Gaier as they attend an inheritance tax law trial at Germany´s Constitutional Court in Karlsruhe(c) REUTERS (RALPH ORLOWSKI)
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Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, über die Gefahren eindimensionalen Kostendenkens und die Vorteile einer Finanztransaktionssteuer.

Die Presse: Die Alpbacher Rechtsgespräche beschäftigen sich nächste Woche mit der Frage „Steuert uns das Recht oder die Wirtschaft?“. Was denken Sie?

Ferdinand Kirchhof: Ich meine, dass Recht und Wirtschaft zusammen für ein gutes Gemeinwesen sorgen und dass beide ihren Einfluss haben müssen. Die Wirtschaft sorgt für Wertschöpfung, schafft Arbeitsplätze, erbringt Produkte; und das Recht sorgt in der Demokratie für den Rahmen, innerhalb dessen das geschehen muss. Denn Wirtschaft ist nicht alles im Gemeinwesen. Das Recht weist ihr den Platz zu und gibt ihr die Regeln.

Kann das Recht so weit Regeln vorgeben, dass die Wirtschaft immer für die Allgemeinheit verträglich arbeitet? Die Spekulation mit mehr oder weniger durchschaubaren Finanzprodukten hat Staaten an den Rand des Ruins geführt, Hedgefonds Argentinien in die Pleite. Kann die Staatenwelt das hinnehmen?

Der Staat darf nicht hinnehmen, dass die Wirtschaft anfängt, sich selbst zu regulieren. Das war aber vor Beginn der Finanzkrise 2008 das übliche Motto der Wirtschaft: „Staat, halte dich fern, wir regeln alles selbst.“ Das ist ihr auch gelungen, aber nur zum Nutzen der beteiligten Wirtschaftssubjekte, nicht zum Nutzen des Kunden, des Bürgers, des Gesamtstaats. Wenn die Wirtschaft ihre Belange selbst vollständig in die Hand nimmt, bedient sie nur sich selbst.

Aber kann der Staat eingreifen? Investoren sind mobil.

Auf die Frage kann man nicht mit Ja oder Nein antworten. Der Staat kann sicher wirkmächtige Regeln vorgeben, vom Haftungsrecht bis hin zum Strafrecht. Aber da die Wirtschaft schnell und beweglich ist, da sie auch immer über den Bereich eines Staats hinaus handelt – wir reden hierbei von Globalisierung –, kommt der Staat oft zu spät oder greift national zu kurz. Der Staat hat nicht Kenntnis davon, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Man wird also nicht sagen können, dass die Regeln des Staats immer ihr Ziel vollständig erreichen werden. Es ist aber seine genuine Aufgabe zu regeln, der er sich stellen muss. Die Grundregeln kann er vorgeben, aber nicht sofort jegliches aufgetretene Problem erfassen und unterbinden.

Würde ein Weltgesetzgeber helfen?

Das ist unser großer Traum vom Weltgesetzgeber, der alles gütig und richtig regelt. Ich habe gewisse Befürchtungen vor ihm: Die Freiheit würde schwinden. Wir haben jetzt eine Staatengemeinschaft, die dem Bürger zwei politische Möglichkeiten einräumt, seine Freiheit zu erhalten: in der Demokratie durch Wahlen und sonst zumindest durch Auswanderung des Kapitals, vielleicht sogar der Person. Wenn wir eine Weltregierung bekommen, fällt sogar die letzte Möglichkeit des Exit weg. Wir organisieren Bundesstaaten, weil wir Freiheit bewahren wollen; dann sollten wir – so schön das an sich klingt – nicht von einer zentralen, allmächtigen Weltregierung träumen.

Um Spekulation einzudämmen, ist in einigen EU-Staaten, darunter Deutschland und Österreich, eine Finanztransaktionssteuer geplant. Was halten Sie davon?

Eine neue Steuer, die dem finanziell gut versorgten Staat weiteres Geld bringt, ist sicher nicht das richtige Signal in Europa. Aber wenn ich sehe, was sich zurzeit an den Börsen, vor allem bei den High-Speed-Tradern, tut, meine ich: Dort, wo wirklich nur spekuliert wird, wo nicht der Markt mit Kapital versorgt wird, wo nicht langfristige Bindungen aufgebaut werden, sondern nur ganz kurzfristig, teilweise in Millisekunden, spekuliert wird, da hielte ich eine solche Steuer für angebracht. Vor allem, weil die Börsen selbst nicht dagegen vorgehen, denn sie leben von den Gebühren, welche die High-Speed-Trader zahlen.

Diese Steuer müsste aber wohl flächendeckend gelten.

Ja. Wenn man eine europaweite oder globale Wirtschaft lenken will, braucht man auch Regelungen, die europaweit oder global greifen. Das wäre also eher ein Thema für die EU als für einen Nationalstaat, vielleicht auch für die WTO. Vielleicht gelingt es aber auch, im Gleichklang der Staaten übereinstimmende nationale Regeln zu schaffen.

Konzerne nutzen internationale Gestaltungsmöglichkeiten, um Einkommensteuern zu minimieren. Lässt sich das vermeiden?

Das ließe sich durchaus machen. Wenn Konzerne unterschiedliche Steuersysteme ausnutzen, ist das legal, und das kann man ihnen nicht vorwerfen. Wenn die Staaten jedoch unterschiedliche Steuergesetze erlassen, teilweise sogar gezielt durch Verlegung des Geschäftssitzes in einen bestimmten Staat zum Steuersparen anregen – denken Sie an Holland, an Nordirland, an Delaware in den USA –, dann sind es die Staaten, die eine Einkommensverlagerung bei Konzernen verursachen. Der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten ist dort nicht redlich. Sie müssen sich in einer Steuerordnung zusammenfinden, die übernational fair ist.

Ist da nicht doch der Weltgesetzgeber gefragt?

Ein bisschen Steuerwettbewerb finde ich ganz gut. Sonst greifen die Staaten zu munter auf die Gelder der Wirtschaft und Bürger zu. Gerade die mitteleuropäischen Staaten – Deutschland, Österreich, Niederlande, Belgien usw. – sind zurzeit sehr gut mit Geld ausgestattet. Die Steuerquellen sprudeln heftig. Wenn man zwischen den Staaten ein Fairnessabkommen schließen würde, keine Steuervergünstigungen zu schaffen, nur um Steuersubstrat ins eigene Land zu ziehen, wäre schon viel geholfen.

Die Steuerquellen sprudeln. Ich nehme an, Sie plädieren dafür, die Staatskassen primär ausgabenseitig zu sanieren.

Ja. Die Forderung wird wohl jeder erheben, der sich mit Finanz- und Steuerrecht befasst. Diese Forderung ist als Wissenschaftler natürlich leichter zu erheben, weil man nicht in der politischen Verantwortung steht; für einen Mandatsträger ist sie schwieriger durchzusetzen. Aber hier sollte man wirklich ansetzen.

Wo drohen die größten Gefahren für die Steuerungsfähigkeit des Rechts?

Das gravierendste Problem besteht darin, dass wir etwa zu Beginn der 1990er-Jahre angefangen haben, unser gesamtes Wirtschaftsleben, teilweise sogar unser Alltagsleben nicht nur zu kommerzialisieren, sondern ökonomisch durchzustylen. Das heißt, allein ökonomische Gesetze über unser Leben und unser Gemeinwesen bestimmen zu lassen. Die Betriebswirtschaft hat heute das Szepter übernommen und steuert alles nur mit der Frage nach Geld, Kosten, Personalaufwendungen oder Preisen. Das erleben wir heute in allen Bereichen des Alltags. Wenn Personal abgebaut, wenn privatisiert oder wenn ein neuer Markt erschlossen wird – es geht nur um Geld und Kosten.

Der Rechenstift regiert.

Genau. Und das ist teilweise durchaus angebracht. Die Geldströme zeigen, wo Ressourcen verschwendet werden, wo effizient geleistet und produziert wird, ob beim Güteraustausch gerechte Preise gezahlt werden. Aber diese ökonomische Orientierung wird momentan als eindimensionaler Maßstab für jede Entscheidung verwendet. Unternehmensberatungen kontrollieren nur noch Kosten und Gewinne. Wenn nur noch der Rechenstift entscheidet und kein anderes Argument mehr für die Gestaltung unseres Gemeinwesens und unseres Lebens gilt, dann wird das menschliche Miteinander ein Haifischbecken für den ökonomisch Stärkeren. Das scheint mir momentan die größte Gefahr bei dem Thema zu sein: Regiert Geld die Welt?

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn ein Unternehmen nur restrukturiert wird, indem es Personal entlässt, billiger wird, Produkte marktgängiger macht, Kosten spart, verliert es langfristige Kunden- oder Zuliefererbindungen und lässt seine Mitarbeiter im Stich. In der Autoindustrie war es bis vor Kurzem üblich, Zulieferer jährlich im Preis zu drücken. Mit dem Ergebnis, dass etliche ausgeschieden sind, obwohl sie wirtschaftlich gearbeitet haben, einfach, weil sie diesen Preisdruck nicht ausgehalten haben. Eine solche eindimensionale Ausrichtung auf aktuelle Kosten und Preise gefährdet die gesamte Infrastruktur der Wirtschaft, auf die wir uns auch noch morgen verlassen müssen. Diese Eindimensionalität eines rein betriebswirtschaftlich orientierten Kostendenkens gefährdet momentan unsere Wirtschaft am meisten. Aber sie erkennt es nicht einmal. Sehen Sie, wie zum Beispiel Internetanbieter unbemerkt aus wirtschaftlichen Erwägungen unser Literaturangebot verändern. Sie bieten nur noch Bücher an, die billig einzukaufen sind und sich gut verkaufen lassen. Gehobene Belletristik oder gar Lyrik fallen dabei heraus. Das Angebot verändert sich unter dem Regime einer Geldsteuerung. Ich habe das Beispiel der Literatur gewählt, weil es da doch primär um etwas anderes als um Gewinne und Kosten geht: um Ideenvermittlung, Autorenmeinungen, politische Ansichten, Welterklärung. Das alles wird mittlerweile ausschließlich monetär entschieden und gesteuert. Letztlich erfüllt das System seine Aufgabe nicht mehr.

Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt: Ist da der Staat aufgerufen, Regeln zu setzen?

Ja. Demokratie sagt, der Bürger bestimmt, wie das Gemeinwesen aussehen soll, und nicht die Wirtschaft mit ihren Einzelinteressenten. Und genau so sollte das Wirtschaftsleben geregelt sein, dass nämlich das Gemeinwesen den Rahmen setzt: im Kartellrecht, im Verbraucherschutz, im Vertragsrecht oder im Gesellschaftsrecht. Aber nicht, dass sich ganze Zweige wie die Finanzdienstleister oder das Internet entfernen und autonom allein ihre wirtschaftlichen Ziele verfolgen. Das Internet entfernt sich vom Staat, weil man seine Betreiber wegen ihrer Globalität kaum in die Verantwortung nehmen kann, die Finanzdienstleister, weil sie das Geschäftsmodell der Intransparenz verfechten. Derivate funktionieren nur, weil der Kunde nicht weiß, was er kauft. Da muss der Staat mit seinen Regeln eingreifen und das Ganze wieder zum Nutzen der Allgemeinheit zusammenführen. Er muss klare und entschiedene Regeln setzen, die den Kunden schützen, wenn dieser strukturell-informatorisch im Hintertreffen ist. Und das ist er zurzeit.

AUF EINEN BLICK

Ferdinand Kirchhof, 1950 in Osnabrück

geboren, hat seit 1986 einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Tübingen inne. Seit Oktober 2007 ist er Richter des Bundesverfassungsgerichts und seit

März 2010 dessen Vizepräsident und Vorsitzender des Ersten Senats. Kirchhofs Vater, Ferdinand, war Richter am Bundesgerichtshof, sein älterer Bruder, Paul, war ebenfalls Richter am Bundesverfassungsgericht.

Die Alpbacher Rechtsgespräche finden am 20. und 21.August mit der „Presse“ als Medienpartner statt und widmen sich der Frage, was aus dem Recht im 21.Jahrhundert wird. Experten aus Wissenschaft, Justiz und Politik diskutieren, inwiefern sich seine traditionelle Funktion wandelt, Staat und Gesellschaft zu steuern. Unter den Vortragenden ist Vizepräsident Kirchhof („Wallstreet vs. Rule of Law: Steuert uns das Recht oder die Wirtschaft?“).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2014)

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