Der 80-Prozent-Mythos: Einfluss des EU-Rechts überschätzt

(c) REUTERS (Yves Herman)
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Die Determinierung durch europäisches Recht variiert je nach Politikfeld stark, aber auf tieferem Niveau als oft behauptet.

WIEN/BRÜSSEL. Als europarechtliches Alltagswissen gilt, dass rund 80 Prozent unserer Gesetze in Brüssel gemacht werden. Sowohl EU-Kritiker wie auch EU-Sympathisanten bringen dies immer dann ins Spiel, wenn sie belegen wollen, dass die Europäische Union schon jetzt unser Leben überwiegend bestimmt. Doch die Zahlen, auf die sie sich dabei stützen, sind hemmungslos übertrieben, ja einfach falsch. Es gibt einfach keine seriöse Studie, die dies auch nur im Ansatz belegt. Es wird einfach immer wieder eine Aussage des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors zitiert oder auf eine angebliche Studie des deutschen Justizministeriums verwiesen. Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Belege jedoch als äußerst dürftig.Jacques Delors hat 1988 prophezeit, dass innerhalb von zehn Jahren „80 Prozent der Wirtschaftsgesetzgebung, vielleicht auch der steuerlichen und sozialen, gemeinschaftlichen Ursprungs sein“ werden. Diese schlichte Aussage hat seither ein immenses Eigenleben entwickelt. Die 80 Prozent sind fixer Bestandteil der europapolitischen Sonntagsredner und gern verwendeter Beleg für die „schleichende Zentralisierung in Brüssel“ (Zitat des deutschen Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog). Allzu dumm, dass es nicht stimmt. Auch eine immer wieder zitierte „Studie des deutschen Justizministeriums“ existiert nicht.

Vergleich der Zahlen hinkt

Das Ministerium hat im Mai 2005 lediglich im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage die Gesamtzahl der von 1998 bis 2004 auf der europäischen Ebene und der bundesdeutschen Ebene beschlossenen Rechtsvorschriften ermittelt. Die in der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage genannten Zahlen taugen jedenfalls nicht für einen entsprechenden Vergleich. Denn sie unterscheiden weder zwischen verschiedenen Rechtsakten noch nach dem Umfang der einzelnen Regelungen.

Die Zahlen einfach gegeneinander aufzurechnen ist schlichter Unsinn, da ein erheblicher Teil der mitgezählten EU-Verordnungen beim besten Willen nicht den Charakter von Gesetzen hat, sondern etwa Detailregelungen im Rahmen der Agrarmarktordnung enthalten. Ebenso unberücksichtigt bleibt, dass ein bedeutender Teil des Rechts nicht auf Bundes-, sondern auf Landesebene verabschiedet wird: Hier werden wohl eher Äpfel mit Birnen verglichen.

Niederlande: Fünftel bis Viertel

Es existieren jedoch durchaus Studien, die wesentlich differenzierter und seriöser den Einfluss der europäischen auf die jeweilige nationale Gesetzgebung untersuchen. Diese Studien kommen jedoch zu viel niedrigeren Zahlen und passen somit nicht in die hysterische Aufgeregtheit um den angeblichen Bedeutungsverlust der nationalen Politik. So ergab etwa eine holländische Untersuchung, dass lediglich 18 bis 27 Prozent aller verabschiedeten niederländischen Rechtsvorschriften auf EU-Richtlinien zurückzuführen sind.

Die aktuellste Studie untersucht, wie hoch der „europäische Impuls“ in den jeweiligen deutschen Ministerien ist. Dabei kam Annette Elisabeth Töller von der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr in Hamburg zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen: Im Ressort Umwelt war der Anteil mit rund 81 Prozent am höchsten. In Forschung und Bildung gab es hingegen gar kein Gesetz, das auf Brüssel zurückgeht. Wobei die Studie auch gleich noch den Begriff „europäischen Impuls“ klärt: In mehr als der Hälfte der Fälle mussten europäische Richtlinien umgesetzt werden. Gut 20 Prozent waren Verordnungen. Der Rest umfasst Entscheidungen von Rat, Kommission oder Europäischem Gerichtshof. Ergebnis dieser Studie: Nur knapp 40 Prozent der deutschen Gesetze sind auf Europa zurückzuführen. Und: Die Produktion europäischer Gesetze nimmt von Jahr zu Jahr ab. Ihr Anteil an der Gesetzgebung sinkt jährlich (Zeitschrift für Parlamentsfragen 1, 2008, S. 3ff.).

Weiterer Studien bestätigen diese Erkenntnisse. Die EU-Bestimmtheit variiert je nach Politikfeld sehr stark. In der Agrar- und Umweltpolitik ist das Ausmaß der Europäisierung sehr hoch. Gerade in den für die Bürger jedoch entscheidenden und sensiblen Bereichen – Steuern, Ausgaben, Sozial- und Gesundheitspolitik, Bildung, lokale Infrastruktur, Außenpolitik – ist die angebliche Brüsseler Regelungswut gering bis inexistent.

Bürger im Unklaren

Die in den politischen Sonntagsreden zur europäischen Integration kursierenden Zahlen sind jedenfalls irreführend und falsch. Von „europäischer Maßlosigkeit“ und „erdrückender Regulierungswut Brüssels“ auf Kosten der nationalen Parlamente kann keine Rede sein. Die Aufgeregtheit sollte jedenfalls einer realistischen Unaufgeregtheit weichen. Und es ist natürlich zu fragen, wo denn die aktuelle Studie zum EU-Einfluss auf die österreichische Gesetzgebung bleibt. Ist es einfach Unvermögen oder doch eher politischer Wille, die Bürger im Unklaren zu lassen, bei wem die Kompetenzen (noch immer) liegen?

Stefan Brocza ist Experte für Europa- und Internationales Recht; diverse Funktionen im BM für Inneres sowie im EU-Ministerrat; Lehr- und Beratungstätigkeit.

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