Öffentlichkeit darf bei Großprojekten länger mitreden

EuGH-Urteil. Rechte der „betroffenen Öffentlichkeit“ in Umweltverfahren stark erweitert.

Wien. Mit dem Umweltrecht befasste Juristen sind es seit Jahren gewohnt – für ein Projekt wird ein Antrag gestellt, danach liegt dieses bei der Behörde für eine gewisse Zeit zur öffentlichen Einsicht auf. Während dieser Zeitspanne können Nachbarn, Umweltorganisationen, Bürgerinitiativen usw. sich zu dem Projekt äußern und damit ihre Parteistellung geltend machen. Nach Ablauf dieser Frist wussten sowohl der Projektwerber als auch die Behörde, mit welchen Einwendungen sie sich im Verfahren zu befassen hatten. Ein ähnliches System gibt es in Deutschland.

Damit ist nun Schluss: Der Gerichtshof der EU (EuGH) hat vorige Woche entschieden (C-137/14), dass eine derartige zeitliche Beschränkung für das Vorbringen der „betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne der einschlägigen umweltbezogenen Richtlinien (UVP-Richtlinie, Industrieemissions-Richtlinie usw.) nicht haltbar ist; es handelt sich dabei um Nachbarn, Umweltorganisationen, Bürgerinitiativen, nicht jedoch um die – an sich dem Staat zuzurechnenden – Umwelt- und Naturschutzanwälte bzw. -beiräte der Bundesländer. Die „betroffene Öffentlichkeit“ soll ein umfassendes Recht auf gerichtliche Nachprüfung von verwaltungsbehördlichen Entscheidungen haben. Das gilt für umwelt- und naturschutzrelevante Großprojekte aller Art, von der Autobahn über große Industrieanlagen bis hin zu Skigebieten.

Nachweis der Relevanz fällt

Bei dieser Gelegenheit hat der EuGH auch gleich festgehalten, dass, selbst wenn es „nur“ um Verfahrensfehler geht, die Mitgliedstaaten keine für die „betroffene Öffentlichkeit“ nur schwer überwindbaren Hürden vorsehen dürfen. Das in Österreich bisher praktizierte System, wonach ein Rechtsmittelwerber aktiv nachweisen musste, dass der Verfahrensmangel eine Relevanz für die ihm zukommenden Rechte hat, ist ebenfalls nicht länger haltbar: Nun soll es offenbar den Verwaltungsgerichten selbst obliegen, unabhängig vom Vorbringen des Rechtsmittelwerbers zu überprüfen, ob ohne diesen Verfahrensmangel eine andere Entscheidung ergangen wäre.

Die Auswirkungen dieses EuGH-Urteils auf Österreich sind freilich enorm. Die Luxemburger Richter stellen damit (indirekt) das in Österreich als Großverfahren bezeichnete System nicht nur in Frage; vielmehr soll dieses in Bezug auf unionsrechtlich relevante Verfahren (UVP-Verfahren, größere gewerbe- oder abfallrechtliche Verfahren, wasser- und naturschutzrechtliche Verfahren) überhaupt nicht mehr zur Anwendung kommen. Künftig darf die „betroffene Öffentlichkeit“ jederzeit und vielleicht sogar noch im Rechtsmittelverfahren vor den Verwaltungsgerichten ihren jeweiligen Standpunkt in das Verfahren einbringen – und dieser ist von der Behörde oder dem Gericht zu behandeln. Dass sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Verfahrensrechts auch ein Effizienzprinzip ableiten lässt, ist dem EuGH dabei nicht so wichtig wie die umfassende gerichtliche Überprüfbarkeit von umweltbezogenen Entscheidungen der Behörden.

Eigene Verfahrensregeln nötig

So weit, so einleuchtend. Einzig in der Umsetzung in Österreich wird es wohl kompliziert werden. Anders nämlich als Deutschland, welches ein eigenes „Umwelt-Rechtsbehelfgesetz“ kennt, läuft in Österreich jedes Verwaltungsverfahren – gleich, ob es sich um eines zur Ausstellung eines Führerscheins oder zur Genehmigung einer Abfallverbrennungsanlage handelt – nach den Regeln des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG) ab. Für umweltbezogene Verfahren geht das nun nicht mehr.

Der Gesetzgeber wird daher jedenfalls reagieren müssen – offen bleibt, ob wir in Österreich bei einem einheitlichen Verfahrenssystem bleiben oder ein „Sonderverfahrensrecht“ nur für umweltbezogene Verfahren bekommen.

Dr. Peter Sander, LL.M./MBA und
Mag. Paul Reichel sind Partner bei
Niederhuber & Partner Rechtsanwälte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2015)

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