Wenn Krisen zur Krise des Rechtsstaats werden

Sonderregeln für den Fall eines Hochwassers (im Bild: 2013 bei Melk) leuchten unmittelbar ein. Doch wo liegen die Grenzen in anderen Krisensituationen?
Sonderregeln für den Fall eines Hochwassers (im Bild: 2013 bei Melk) leuchten unmittelbar ein. Doch wo liegen die Grenzen in anderen Krisensituationen? (c) APA/HELMUT FOHRINGER
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Rechtspolitik. Bisweilen entsteht der Eindruck, als setze der Gesetzgeber Krisen weniger als Beschreibung einer außergewöhnlichen Situation ein, sondern als Mittel, um von der Rechtsgemeinschaft erhöhte Opferbereitschaft einzufordern.

Innsbruck. Die Einsicht ist nicht neu, und viel wurde bereits darüber geschrieben: Unsere gesellschaftliche und politische Realität ist seit einigen Jahren von zahlreichen und vielfältigen (behaupteten) Krisen geprägt. So zahlreich wie die Krisen selbst sind auch ihre Wirkungen: auf die Solidarität zwischen gesellschaftlichen Gruppen, auf politische Trends, ja selbst auf unser Reise- und Freizeitverhalten.

Dass sich Krisen auch auf die geltende Rechtsordnung auswirken, ist da wenig überraschend.
Nun trifft die Rechtsordnung eines Rechtsstaats üblicherweise Vorkehrungen für ernsthafte – krisenhafte – Situationen. Dass diese Normen nur in einer Ausnahmesituation zur Anwendung kommen sollen, hat seinen Grund: Typischerweise wird mit diesen Bestimmungen nämlich von jenem Niveau abgegangen, das wir als Standard unseres Rechtsstaats errungen haben. Es steht für uns geradezu außer Diskussion, dass Gesetze in einem parlamentarischen Verfahren zustande kommen.

Dennoch darf in bestimmten krisenhaften Situationen ein Verwaltungsorgan – etwa der Bundespräsident – Regelungen treffen, die im Normalfall dem Parlament vorbehalten sind. Wiewohl wir in einer Normalsituation eine derartige Bestimmung ablehnen würden, so akzeptieren wir sie vor dem Hintergrund einer vorübergehenden besonderen Lage, die rasches Handeln gebietet. Entsprechendes gilt für jene Bestimmungen, die etwa in Krisenfällen Rechte suspendieren oder neue Pflichten auferlegen: Wir akzeptieren es, dass Einsatzkräfte bei Hochwasser fremde Grundstücke betreten dürfen, denn in Krisen kann dem Einzelnen eben ein höheres Maß an Einsatz- und Opferbereitschaft zum Wohl der Gemeinschaft abverlangt werden.

Anwendungsbereich unklar

Zweifellos bergen solche Normen eine gewisse Missbrauchsgefahr, unter anderem deshalb, weil sich ihr Anwendungsbereich nicht immer bis in das Letzte zweifelsfrei erfassen lässt. Erinnert sei an die Debatte darüber, ob der Zustrom Schutz suchender Personen tatsächlich den Schutz der öffentlichen Ordnung und die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit in Österreich gefährdet und damit den Anwendungsbereich von Art. 72 AEUV eröffnet. Diese „Krisendiagnose“ kann Schwierigkeiten bereiten, die sich aber letztlich nie ganz ausschalten lassen. Abgemildert wird die Problematik durch gewisse Sicherungen. Typisch sind etwa zeitliche Beschränkungen sowie Kontrollen: Die Gerichte überprüfen, ob die behauptete Qualifikation einer Situation vertretbar und damit die Anwendung einer Not- oder Ausnahmebestimmung zulässig ist.

Ein wenig abseits dieser klassischen rechtlichen Krisenbewältigungsinstrumente sticht eine weitere rechtliche Krisenreaktion ins Auge. Vermehrt werden neue Normen erlassen, deren Notwendigkeit mit den Anforderungen verschiedener Krisen gerechtfertigt wird. Tatsächlich finden sich in solchen Normen häufig gerade jene Instrumente, die die Rechtsordnung in Krisen typischerweise vorsieht: Es werden Rechte beschränkt, Pflichten auferlegt, Kompetenzen erweitert. Anders als echte Ausnahmebestimmungen aber, die – ihre Bezeichnung legt es nahe – nur vorübergehend gelten sollen, gelten die meisten dieser neuen Normen zeitlich unbegrenzt.

So entsteht bisweilen der Eindruck, als setze der Gesetzgeber Krisen gar nicht so sehr als Beschreibung einer ernsthaften und außergewöhnlichen Situation ein, sondern vielmehr als politischen Argumentationstopos, mit dem die Rechtsgemeinschaft auf eine erhöhte Opferbereitschaft eingeschworen werden soll: Im Glauben, dass wir uns tatsächlich in einer außergewöhnlichen Situation befinden, nehmen wir Beschränkungen unserer Rechte Stück für Stück in Kauf.

Dass diese Gefahr gerade in – behaupteten – Krisenzeiten so groß ist, ist nachvollziehbar: Ist nämlich die Situation prekär, ist die Gemeinschaft eher bereit, Beschränkungen hinzunehmen und letztlich sogar den bekannten starken Mann zu akzeptieren. In der Tat lassen sich Krisen möglicherweise rascher bewältigen, wenn nicht komplizierte und bisweilen träge demokratische Prozesse durchlaufen und rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden müssen. Um ein drastisches Beispiel anzuführen: Eine „Asylkrise“ ließe sich nationalstaatlich bewältigen, indem alle Schutzsuchenden abgewiesen würden, eine „Sicherheitskrise“ ließe sich in den Griff bekommen, indem alle Menschen überwacht und Verdächtige – auch ohne konkrete Haftgründe – festgenommen werden könnten.

Gerade diese in Krisen so erwünschten raschen „Erfolge“ scheinen den Entscheidungsträgern zunächst recht zu geben, freilich kann daraus eine weitaus ernsthaftere und grundlegendere Krise erwachsen: jene für Rechtsstaat und Demokratie. Die Krise lässt sich nämlich gut als Rechtfertigung dafür einsetzen und missbrauchen, die Schwelle staatlicher Eingriffe stetig zu senken. Zugleich wird meist nicht mehr zu jenen Standards zurückgekehrt, die im Licht einer „Krise“ aufgegeben wurden. Oder ist es ernsthaft denkbar, dass der Gesetzgeber die Sicherheitskrise für beendet erklärt und die weitreichenden im Polizeilichen Staatsschutzgesetz normierten Ermittlungsbefugnisse wieder zurücknimmt? Auf diese Weise wird die „Ausnahme“ zur neuen Normalität. All dies geschieht nicht durch eine große Erosion, sondern schrittweise: Jede dieser Nivellierungen mag für sich genommen noch akzeptabel sein, erst in ihrer Gesamtheit betrachtet zeigt sich freilich ihr wahres Ausmaß.

Achtsamkeit ist vonnöten

Ein Überstrapazieren des Krisennarrativs wirkt sich (auch) auf die Rechtsordnung aus: Es mag sein, dass rechtsstaatliche Standards Verfahren verkomplizieren, es stimmt, dass es – vorübergehend! – Situationen gibt, in denen es erforderlich ist, diese Standards abzusenken. Angesichts der gewichtigen Konsequenzen gilt es freilich, mit dem Krisenetikett sorgsam umzugehen. Erst recht muss diese Achtsamkeit dort eingefordert werden, wo sich das Verhältnis zwischen Normalität und (krisenbedingter) Ausnahme umzukehren droht.

Ao. Univ.-Prof. Lamiss Khakzadeh-Leiler lehrt am Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Uni Innsbruck.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2016)

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