Muss der Staat Flüchtlinge entschädigen?

(c) APA/ERWIN SCHERIAU
  • Drucken

Beim Ansturm vor einem Jahr konnte der Staat nicht alle Asylwerber versorgen. Ein VfGH-Erkenntnis deutet darauf hin, dass er für die anderweitige Versorgung aufkommen muss.

Linz. Als im Herbst 2015 Tausende Flüchtlinge nach Österreich kamen, brach das System der Grundversorgung in sich zusammen. Die Strukturen waren überlastet, der Staat konnte die zahlreichen Asylwerber weder unterbringen noch verpflegen. Die Beamten schickten die Menschen notgedrungen weg, auf die Straße, überließen sie vorläufig ihrem Schicksal. Nicht der Staat, sondern die Hilfsorganisationen, ihre ehrenamtlichen Helfer und die Barmherzigkeit vieler Mitmenschen verhinderten in den meisten Fällen Hunger, Durst und Obdachlosigkeit. Erst nach einigen Tagen bzw. Wochen konnten Bund und Länder letztlich alle Personen in die Grundversorgung aufnehmen.

Die Überforderung des Staates ändert nichts am rechtlichen Befund: Das Unterlassen jeglicher Fürsorge durch den Staat war rechtswidrig. Der Anspruch auf Grundversorgung entsteht nämlich unmittelbar und ohne, dass es eines gesonderten Antrags oder Bescheids bedürfte, mit dem Zeitpunkt des Antrags auf internationalen Schutz. Die Vollauslastung der Aufnahmenetze rechtfertigt nicht – so der EuGH im Jahr 2014 in der Rechtssache Saciri (C-79/13) – die auch nur vorübergehende Vorenthaltung von Grundversorgungsleistungen.

Anspruch direkt aus EU-Recht

Was die Art der Leistungen betrifft, räumt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht ein: Sie können zwischen Sach- und Geldleistungen wählen. Bund und Länder haben sich gesetzlich auf Sachleistungen festgelegt. Den Asylwerbern gebührt Verpflegung, Unterkunft, eine Krankenversicherung und daneben ein kleines Taschengeld.

Im Herbst 2015 waren Bund und Länder aus teils selbst verschuldeten Gründen nicht mehr in der Lage, die rechtlich gebotenen Sachleistungen zur Verfügung zu stellen. Was also hätte der Staat tun müssen? Auch dazu hat sich der EuGH klar positioniert: Sind die Systeme voll ausgelastet, hat der Staat die Pflicht, den Asylwerbern rechtzeitig ausreichende finanzielle Mittel bereitzustellen, damit sie sich die erforderlichen Leistungen (Verpflegung, Unterkunft etc.) selbst besorgen können – notfalls auf dem freien Wohnungsmarkt, in Dringlichkeitsfällen wohl auch in Pensionen oder gar in Hotels. Wie aber hinlänglich bekannt, zahlten Bund und Länder, wiederum rechtswidrig, im Herbst 2015 nichts an die Asylwerber aus.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in einer jüngst ergangenen Entscheidung (A 15/2015) den Anspruch von Asylwerbern auf Geldersatzleistungen im Prinzip anerkannt, wenn ihnen der Staat nach Einbringung eines Asylantrags gesetzlich vorgesehene Grundversorgungs-Sachleistungen faktisch vorenthält. Eine syrische Staatsangehörige, die etwa zwei Wochen lang auf die Hilfe von Privatpersonen angewiesen war, hatte mit Unterstützung des ehrenamtlichen Vereins Helping Hands Linz das Land Oberösterreich auf Geldersatz für diesen Zeitraum geklagt. Der VfGH wies die Klage zwar mangels Zuständigkeit als unzulässig zurück, deutete der Klägerin aber den Weg. Sie könne bei der zuständigen Grundversorgungsbehörde einen Antrag stellen und ihren behaupteten Anspruch auf dem Verwaltungsrechtsweg durchsetzen.

Zur Höhe einer möglichen Ersatzleistung machte der VfGH keine Angaben. Nur so viel sei gesagt: Gemäß Art 17 Abs 5 der Aufnahme-Richtlinie (2013/33/EU) bemisst sich die Grundversorgung, wenn sie als Geldleistung gewährt wird, nach dem Leistungsniveau, das der betreffende Mitgliedstaat anwendet, um eigenen Staatsangehörigen einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Vieles spricht also für eine Bemessung der Ersatzleistung in Höhe der Mindestsicherung, und zwar derjenigen für Inländer.

Bleibt die Frage, ob das Begehren an den Bund oder das Land des damaligen Aufenthalts zu richten ist. Bis zur Zulassung des Verfahrens durch Aushändigung der weißen Aufenthaltskarte ist jedenfalls der Bund zuständig. Ob nach diesem Zeitpunkt die – auch finanzielle – Verantwortung unmittelbar auf die Länder übergeht, erst nach 14 Tagen, oder gar erst dann, wenn der Bund den konkreten Asylwerber förmlich einem Bundesland zugewiesen hat, ist noch nicht ausjudiziert und hängt von kompetenzrechtlichen Erwägungen, aber auch von der Ausgestaltung der einzelnen Landesgesetze ab. Hier ist also noch einiges unklar.

Die Entscheidung des VfGH könnte von größerer Tragweite sein: Alle Asylwerber, die im vergangenen Herbst zumindest zeitweise nicht vom Bund oder den Ländern betreut wurden, könnten berechtigt sein, bei der zuständigen Behörde rückwirkend für diesen Zeitraum Geldersatz zu beantragen. Ganz sicher ist der Anspruch freilich nicht, denn der VfGH hat ja nur entschieden, dass er dafür nicht zuständig ist. Ob für derartige Anträge Fristen einzuhalten gewesen wären, ist nach dem jeweils anzuwendenden (Landes-)Recht zu beurteilen. Für Oberösterreich existieren offenkundig keine derartigen Fristen. Anträge sind daher nach wie vor zulässig.

Private sprangen gratis ein

Dass eine faktische Versorgung durch Privatpersonen oder Hilfsorganisationen, die nicht von Bund bzw. Land hierfür beauftragt und bezahlt wurden, den Anspruch teilweise zum Erlöschen bringt, ist nicht anzunehmen, weil in der Regel nicht davon ausgegangen werden kann, dass die freiwilligen Helfer den Staat von seiner Leistungspflicht befreien wollten. Der Staat kann nicht, wie sich der OGH (1 Ob 272/02k) einst treffend ausdrückte, mit der allfälligen Beseitigung der Hilfsbedürftigkeit von Asylwerbern durch Dritte spekulieren, um sich schließlich auf den zu seiner Leistungsfreiheit führenden Wegfall der Hilfsbedürftigkeit zu berufen, nachdem ein Dritter eingesprungen ist, um die wirtschaftliche Notlage oder gar Gefährdung der Existenz schlechthin von dem Asylwerber abzuwenden. Allerdings ist der OGH in späteren Entscheidungen von dieser Ansicht abgerückt (z. B. 5 Ob 98/05f). Welchen Weg die Verwaltungsgerichte beschreiten werden, bleibt abzuwarten.

Warum im Nachhinein zahlen?

All jenen, die kein Verständnis dafür aufbringen, Asylwerbern noch im Nachhinein Geld für einen Zeitraum zu geben, in dem sie ohnehin, wenn auch behelfsmäßig und im Rahmen der Freiwilligkeit, unterstützt wurden, seien zwei Gedanken mitgegeben: Zum einen geht es in einem Rechtsstaat nicht an, bestehende unionsrechtliche Pflichten zu ignorieren. Zum anderen haben die Hilfsorganisationen, vor allem aber helfende Privatpersonen, gegenüber den Asylwerbern Anspruch auf Aufwandersatz, wenn sie nicht darauf verzichten.

Verwenden also Asylsuchende den von Bund bzw. Land erstrittenen Betrag, um für Unterkunft bzw. Verpflegung nachträglich zu bezahlen, ist die vom Gesetz intendierte Lastenverteilung wieder hergestellt. Derzeit ist nämlich der Staat – auf Kosten der Asylwerber und der Freiwilligen – bereichert. Ob Helfer und Hilfsorganisationen einen direkten Aufwandersatzanspruch gegen den Staat haben, steht wieder auf einem anderen Blatt.


Dr. Thomas Trentinaglia ist Universitätsassistent am Institut für Öffentliches Wirtschaftsrecht der JKU Linz; er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins Helping Hands Linz – Verein für ehrenamtliche fremdenrechtliche Beratung und war am Verfahren A 15/2015 beratend beteiligt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.