Zu enges Denken bei Juristen

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Die Soziologie spielt im Jusstudium keine Rolle mehr. Juristen fragen kaum noch nach dem Zweck von Gesetzen. – Ein Plädoyer, den Konnex zwischen Gesellschaft und Politik, Recht und Verfassung stärker zu beachten.

GRAZ. Der vormalige Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Ludwig Adamovich, hat laut Medienberichten behauptet, das achtjährige Leben von Natascha Kampusch im Verlies ihres Kidnappers Wolfgang Priklopil sei vermutlich weniger schlimm gewesen als ihr vorheriges Leben bei der Mutter. Inzwischen bedauert Adamovich zwar diese Aussagen. Für mich das Interessante an seinen Äußerungen war aber, dass er diese Behauptung nicht psychologisierend oder moralisierend (etwa durch Verweis auf den pathologischen Charakter des Entführers oder die Herzlosigkeit einer „Rabenmutter“) zu begründen versuchte. Sondern in genuin soziologischer Weise, indem er sich auf die sozialen Lebensumstände und Erfahrungen des Mädchens vor und während des Aufenthalts in ihrem unterirdischen Verlies bezog.

Nicht genannt wurde von Adamovich die aus soziologischer Sicht gravierendste Beeinträchtigung der Lebenschancen der jungen Frau, ihre totale Freiheitsberaubung, die durchaus als Versklavung bezeichnet werden kann. Eine neuere, weltweite Studie zeigte, dass das Gefühl, selbst über sein Leben bestimmen zu können, einer der stärksten Faktoren dafür ist, dass man zufrieden und glücklich ist.

Sicherheit wichtiger als Freiheit

Die unglaublichen Gefahren, die Menschen auf sich nehmen, um tyrannischen Regimes zu entfliehen, oder der Freudentaumel, in den ganze Völker geraten, wenn sie ihre Freiheit erlangen (etwa in Berlin 1989) sind weitere Belege für die fundamentale Bedeutung von Freiheit bzw. Unterdrückung für die menschliche Existenz. Allerdings können sich Menschen selbst an gravierende Einschränkungen der Freiheit gewöhnen, nicht zuletzt deshalb, weil sie oft mit einem Gewinn an Sicherheit einhergehen. Auch Sklaven wurden oft sehr menschlich behandelt und entwickelten enge Bindungen an ihre Herren. Schon der griechische Philosoph Plato hat – ebenso wie Alexis de Tocqueville – darauf hingewiesen, dass die Menschen, vor die Wahl gestellt, die Sicherheit der Freiheit oft vorziehen.

In seinem berühmten Höhlengleichnis lädt Plato Leser dazu ein sich vorzustellen, gewisse Menschen würden von Geburt an in einer tiefen Höhle leben und die reale Welt nur aus den Schatten erkennen können, die die Bewegungen der Menschen vor dem Eingang der Höhle an die Wand innerhalb der Höhle werfen. Wollte man den Menschen in der Höhle klarmachen, dass sie die reale Welt noch nie gesehen haben, würde man auf völliges Unverständnis stoßen.

Die Rechtswissenschaften in Österreich halten es nicht mehr für nötig, in ihrer Arbeit sozialwissenschaftliche Fragestellungen, Forschungsmethoden und Erkenntnisse systematisch zu berücksichtigen. In den neuen Studienplänen der Rechtswissenschaften kommen Soziologie, Politikwissenschaften oder Ökonomie als Pflichtfach nicht mehr vor. So studieren junge Juristen das Recht primär aus einer rechtsdogmatisch-normativen Perspektive, die nicht danach fragt, welcher Endzweck hinter spezifischen Gesetzen steht. Recht ist zweifellos „Herrschaftswissen“, wie Michel Foucault unter vielen anderen gezeigt hat. Daher braucht, wer über seine Setzung und Anwendung entscheiden kann, sich vielleicht gar nicht viele Gedanken über Fragen dieser Art machen.

Die Distanz der Juristen zu einer sozialwissenschaftlichen Perspektive bestand und besteht nicht jederzeit und überall. Einer der Begründer der modernen, demokratischen Verfassungen, der Franzose Charles de Montesquieu, hat in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ (erschienen 1748) soziologische und politikwissenschaftliche Aspekte ebenso beachtet wie juristisch-verfassungsrechtliche. Für ihn muss eine Verfassung den Sitten und Gebräuchen eines Volkes entsprechen, damit sie wirklich geachtet wird und Geltung erlangen kann. Der Nichtjurist Napoleon Bonaparte soll die Beratungen des französischen Verfassungskonvents zum neuen, 1804 implementierten Code civil häufig persönlich mit großem Interesse und konkreten Vorschlägen für klarere Formulierungen des Texts begleitet haben. Beim Entwurf der amerikanischen Verfassung in den Jahren 1787 bis 1789 hatten vermutlich politische Philosophen, Unternehmer und andere ein Übergewicht über die Juristen. Entstanden ist damals nicht nur eine der kürzesten und prägnantesten, sondern auch eine der ältesten bis heute bestehenden republikanisch-demokratischen Staatsverfassungen.

Hans Kelsen, der „Vater“ der in den Grundzügen bis heute gültigen Verfassung der Ersten Republik Österreich, zog zwar eine scharfe Grenze zwischen Soziologie und Rechtswissenschaft, er hielt jedoch auch Erstere für wichtig und widmete der Beziehung zwischen beiden Fächern ein eigenes Buch. Allerdings gibt es auch heute noch vereinzelte Wissenschaftler, die die strikte Trennung zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften nicht so mitvollzogen haben, wie etwa Wolfgang Mantl in Graz.

Es würde die gesellschaftliche und politische „Reife“ eines ökonomisch so gut dastehenden Landes wie Österreich fördern, wenn man sich der Bedeutung des Konnexes zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einerseits, Recht und Verfassung andererseits stärker bewusst würde. Beginnen müsste dies mit einer systematischen Vermittlung von grundlegenden Rechtskenntnissen im Unterricht auf allen Stufen. Böswillige Kritiker behaupten, die Juristen gestalten Gesetze so kompliziert, damit Laien bei Problemfällen auf juristischen Beistand angewiesen sind.

Neue Ausbildung notwendig

Im alltäglichen Leben ist – angesichts der zunehmenden Verrechtlichung aller Lebensbereiche – heute jeder ständig mit Rechtsproblemen konfrontiert. Und es fällt oft zu seinem oder ihrem Schaden aus, wenn er oder sie sich dessen nicht bewusst ist (man denke an Kauf- und Schuldverträge, Heirats- und Scheidungsakte bis hin zu strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr). Die enge Vernetzung von Recht und Gesellschaft sollte auch in der akademischen Lehre und Forschung (wieder) entsprechend Eingang finden. Parallel zu einer stärkeren Einbindung der Sozialwissenschaften in die juristische Ausbildung müssten auch die Sozialwissenschaften selbst rechtliche Aspekte stärker berücksichtigen, wo immer sie relevant sind. Soziologie der Ehe und Familie sollte nicht ohne Kenntnis des Ehe- und Familienrechts betrieben werden, die ökonomische Betrachtung von Wirtschaftsordnungen nicht ohne Kenntnisse von Eigentums- und Erbrechten in der Geschichte, politische Wissenschaft nicht ohne Kenntnis des nationalen und internationalen Verfassungsrechts.

Max Haller ist o. Professor für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz und korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im vergangenen Jahr erschien u.a sein Buch „Europäische Integration als Elitenprozess. Das Ende eines Traums?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2010)

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