Kosovo: IGH folgt der Rechtsansicht Österreichs

IGH-Präsident Hisashi Owada, Vizepräsident Peter Tomka (li.) und Richter Awn Shawkat Al-Khasawneh
IGH-Präsident Hisashi Owada, Vizepräsident Peter Tomka (li.) und Richter Awn Shawkat Al-KhasawnehAP/Evert-Jan Daniels
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Der Internationale Gerichtshof in Den Haag folgte in seinem Kosovo-Gutachten über weite Strecken der österreichischen Argumentation.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat am 22. Juli 2010 die Frage nach einer  allfälligen Völkerrechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo mit der überraschend klaren Mehrheit von 10:4 Stimmen verneint. Er stellte in seinem auf Ersuchen der UN-Generalversammlung verfassten Rechtsgutachten ausdrücklich fest, dass die Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 weder das allgemeine Völkerrecht noch Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrats verletzt.

Diese Entscheidung wurde im Völkerrechtsbüro des österreichischen Außenministeriums mit Genugtuung aufgenommen, ist doch der IGH in vielen Punkten den österreichischen Argumenten gefolgt. Österreich, das die Unabhängigkeit des Kosovo als einer der ersten Staaten anerkannt hat, vertrat in diesem Verfahren die Auffassung, dass das allgemeine Völkerrecht Unabhängigkeitserklärungen nicht verbietet und dass auch im Fall des Kosovo das durch Resolution 1244 geschaffene UN-Übergangsregime der Unabhängigkeitserklärung nicht entgegenstand. Die österreichische Stellungnahme ist im Außenministerium unter Leitung von Univ.-Prof. i.R. Dr. Gerhard Hafner verfasst worden.

Bisher nur spezielle Verbote

Laut dem IGH ergibt sich weder aus dem allgemeinen Völkerrecht noch aus der Praxis des Sicherheitsrats ein grundsätzliches Verbot von Unabhängigkeitserklärungen. In einzelnen Ausnahmsfällen, wie z.B. bei Rhodesien, Nordzypern und der Republika Srpska, habe der Sicherheitsrat zwar  Unabhängigkeitserklärungen verurteilt, aber nur deshalb, weil sie mit rechtswidriger Gewaltanwendung oder anderen schwerwiegenden Verletzungen zwingender völkerrechtlicher Normen in Zusammenhang standen. Hinsichtlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo habe der Sicherheitsrat keine derartige Feststellung getroffen.

Im Rahmen des Verfahrens war von Kritikern der Unabhängigkeit des Kosovo argumentiert worden, dass der völkerrechtliche Grundsatz der territorialen Integrität der Unabhängigkeitserklärung entgegenstehe. Auch in diesem Punkt schloss sich der IGH der von Österreich vertretenen Auffassung an, dass die Verpflichtung zur Achtung der territorialen Integrität nur bestehende Völkerrechtssubjekte, insbesondere Staaten, trifft.

Kein Widerspruch zu Resolution 1244

Selbst wenn Unabhängigkeitserklärungen nach allgemeinem Völkerrecht nicht verboten sind, hätte die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo durch Sicherheitsrats- Resolution 1244 ausgeschlossen sein können. Mit dieser Resolution wurde nach dem militärischen Konflikt des Jahres 1999 eine internationale zivile und militärische Präsenz im Kosovo geschaffen, die bis zu einer Lösung der Kosovo-Frage die Selbstverwaltung des Kosovo fördern sollte. Der IGH interpretierte – ähnlich wie Österreich – das durch die Resolution geschaffene Regime als Übergangsregime, das keine Bestimmungen über den endgültigen Status des Kosovo enthält und daher auch eine Unabhängigkeitserklärung nicht ausschließt.

Da dem IGH die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung „durch die provisorischen Selbstverwaltungseinrichtungen des Kosovo“ gestellt worden war, prüfte der IGH sehr genau, wer Autor der Unabhängigkeitserklärung ist. Er kam zum Ergebnis, dass dies nicht die provisorischen Einrichtungen des Kosovo waren, wie die Fragestellung an den IGH insinuiert hatte. Aufgrund der Besonderheiten des Annahmeprozesses der Erklärung ging der IGH (wie auch Österreich) vielmehr davon aus, dass die Vertreter des kosovarischen Volkes außerhalb der Übergangsverwaltung die Unabhängigkeit erklärt haben. Die Unabhängigkeitserklärung habe daher weder Resolution 1244 noch das auf der Grundlage dieser Resolution geschaffene „Constitutional Framework“ des Kosovo verletzt.

Heikle Fragen unbeantwortet

Interessant ist auch, womit sich das Gutachten nicht auseinandersetzt. Manche Beobachter hatten erwartet, dass der IGH das Kosovo-Verfahren zum Anlass nimmt, die Voraussetzungen für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu untersuchen. Der Gerichtshof beschränkte sich aber auf die Feststellung, dass die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts zu einem Recht auf Unabhängigkeit und zum Entstehen vieler Staaten im Rahmen des Dekolonialisierungsprozesses geführt habe. Auch außerhalb dieses Prozesses habe es Unabhängigkeitserklärungen gegeben; die Staatenpraxis weise aber nicht darauf hin, dass solche Erklärungen verboten sind.

Der IGH erachtete es nicht für notwendig, das Ausmaß des Selbstbestimmungsrechts außerhalb des Dekolonialisierungsprozesses und das allfällige Bestehen eines Sezessionsrechts näher zu prüfen. Die Lösung dieser Fragen sei für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht notwendig, außerdem seien sie dem Gerichtshof gar nicht gestellt worden; eine Auffassung, die auch Österreich vertreten hatte.

"Notwehrrecht" bleibt offen

Der IGH ging damit nicht näher auf die von vielen Unterstützern der kosovarischen Unabhängigkeit relevierte, umstrittene Rechtsfigur der „remedialen Sezession“ ein, nach der unter bestimmten Voraussetzungen ein Sezessionsrecht als „Notwehrrecht“ aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker abgeleitet werden kann. Ebensowenig beurteilte der IGH die rechtlichen Konsequenzen von Unabhängigkeitserklärungen sowie die allgemeinen Voraussetzungen für das Entstehen eines neuen Staates und seiner Anerkennung durch bestehende Staaten.

Helmut Tichy ist Leiter, Nadia Kalb ist Referentin des Völkerrechtsbüros des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten.   

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