Wenn Richter Unionsrecht aufheben: EU-Rechtsstaat kommt einen Schritt voran

Offenlegung von Agrarbeihilfen. Erstmals hat der Gerichtshof der Europäischen Union einen rein europäischen generellen Rechtsakt als grundrechtswidrig aufgehoben.

Wien. Vorige Woche hat der EuGH die Veröffentlichung der Empfänger von Agrarbeihilfen als mit der Grundrechtecharta unvereinbar qualifiziert und die entsprechende EU-Verordnung für ungültig erklärt. Das Urteil stellt eine wesentliche Fortentwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes dar und geht über eine bloß datenschutzrechtliche Entscheidung hinaus.

Als Teil der im Jahr 2005 beschlossenen Transparenzinitiative der EU sah eine Verordnung (VO 1290/2005) die Offenlegung der Empfänger von Agrarsubventionen mit Firma oder Namen, Ort und Postleitzahl im Internet vor. Zwei hessische Betriebe hatten gegen die Veröffentlichung der von ihnen bezogenen Subventionen geklagt. Das damit befasste Verwaltungsgericht Wiesbaden legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob derartige Veröffentlichungen mit dem Recht auf Datenschutz vereinbar sind. Der EuGH hielt nun im Urteil C-92/09 fest, dass eine solche Offenlegung einen Grundrechtseingriff (Art 7 und 8 GRC) darstelle. Ein solcher sei nur dann zulässig, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, dem Gemeinwohl dient und verhältnismäßig ist. Der EuGH hat anerkannt, dass Transparenz bei der Verwendung von Steuermitteln ein öffentliches Interesse darstelle, das einen Grundrechtseingriff rechtfertigen könnte. Der Gerichtshof meint aber, dass auch eine (nicht näher präzisierte) beschränkte Veröffentlichung der Subventionsempfänger für diesen Zweck ausreichend wäre. Die VO 1290/2005 habe sich daher nicht auf den absolut notwendigen Grundrechtseingriff beschränkt, weshalb der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt worden sei. Der EuGH erklärte daraufhin Teile der Verordnung für ungültig.

Rangordnung im Unionsrecht

Unabhängig von den inhaltlichen Aspekten dieser Entscheidung – eine Debatte darüber wäre durchaus lohnenswert – erscheint der Vorgang aus österreichischer Sicht wenig spektakulär. Man ist gewohnt, dass der VfGH Gesetze als grundrechtswidrig aufhebt. Auf europäischer Ebene ist die Ungültigerklärung von Rechtsakten wegen eines Verstoßes gegen Grundrechte hingegen ein Novum – sieht man vom Sonderfall des Urteils Kadi ab. Dieser betraf allerdings die Umsetzung eines UN-Sicherheitsratsbeschlusses und keinen rein europäischen Rechtsakt. Das Europarecht kennt zwar eine Art Stufenbau der Rechtsordnung in dem Sinne, dass sekundäres Unionsrecht (Verordnungen und Richtlinien) nicht gegen Primärrecht verstoßen darf.

Bisher hat der EuGH aber keinen (genuin unionsrechtlichen) Sekundärrechtsakt wegen eines inhaltlichen Verstoßes gegen Vertragsrecht für ungültig erklärt. Er hat Entscheidungen wegen Verfahrens- und Begründungsmängel aufgehoben, Verordnungen und Richtlinien wegen fehlender Zuständigkeit der Union oder aufgrund der falschen Kompetenzgrundlage für ungültig erklärt. Der Gerichtshof hatte aber keinen generellen Sekundärrechtsakt als Verstoß gegen eine Grundfreiheit oder ein konkretes Grundrecht qualifiziert. Der EuGH akzeptierte bisher politische Kompromisse der Mitgliedstaaten im Rahmen der europäischen Gesetzgebung und verzichtete im Interesse der europäischen Integration auf eine strenge Prüfung der inhaltlichen Primärrechtskonformität.

Dass diese judizielle Zurückhaltung in Bezug auf die Achtung der Grundrechte der Bürger nun nicht mehr uneingeschränkt gilt und gerade die Grundrechtecharta zur ersten materiellen Ungültigerklärung einer EU-Verordnung geführt hat, spricht für den Reformvertrag von Lissabon. Rat, Kommission und Parlament werden sich nun daran gewöhnen müssen, dass das von ihnen beschlossene Unionsrecht auf seine Chartakonformität hin geprüft werden wird und der einzelne Bürger im Rechtsweg Sekundärrecht als grundrechtswidrig zu Fall bringen kann. Insoweit ist das Urteil der vergangenen Woche eine wesentliche Weiterentwicklung des europäischen Rechtsstaates.

Dr. Ennöckl, LL.M., ist Ass.-Prof. am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.

Auf einen Blick

Das EU-Recht ist ähnlich wie die innerstaatliche Rechtsordnung von einem Stufenbau gekennzeichnet. Von der Verfassung leiten sich in Österreich Gesetze und Verordnungen ab, von diesen Bescheide und Urteile. Höchstrangiges EU-Recht ist das Primärrecht: der Vertrag über die Europäische Union (EUV), der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV), die Charta der Grundrechte. Gleichsam darunter stehen Verordnungen und Richtlinien. Von diesen hat der Gerichtshof der EU nun erstmals eine wegen Verstoßes gegen die Charta aufgehoben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2010)

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