Soll sexueller Missbrauch von Kindern verjähren?

Im Kinderheim am Wilhelminenberg sollen Kinder systematisch vergewaltigt worden sein
Im Kinderheim am Wilhelminenberg sollen Kinder systematisch vergewaltigt worden seinAP Photo/Ronald Zak
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Ein brutaler Fall in einem Wiener Kinderheim facht eine alte Debatte an. Das Justizministerium sieht aber keinen Regelungsbedarf.

Wien. Es sind Geschehnisse, die man sich kaum vorstellen will: Zwei Mädchen, sechs und acht Jahre, sollen Anfang der Siebzigerjahre im Wiener Kinderheim am Wilhelminenberg gedemütigt, misshandelt und systematisch vergewaltigt worden seien - von Erziehern, von Fremden. Die beiden Frauen, heute 47 und 49 Jahre alt, die nun an die Öffentlichkeit gegangen sind, wirken noch immer traumatisiert. Die mutmaßlichen Täter und Täterinnen hingegen, sofern sie noch leben, sind noch immer frei - und werden es bleiben. Denn der Missbrauch ist verjährt. So ist das Recht - aber ist es auch gerecht?
Soll Missbrauch gegen Kinder verjähren, und falls ja, wie lange sollen die Fristen laufen? Die international oft geführte Debatte kam in Österreich 2009 zu einem Halt: Damals wurde die Verjährung bei Misshandlung und sexuellem Missbrauch von Minderjährigen insofern verschärft, als der Fristenlauf (fünf bis zwanzig Jahre) seitdem erst ab dem 28. Lebensjahr statt ab dem 18. beginnt. Sprich: Im Extremfall kann ein 48-Jähriger einen Missbrauch aus der Kindheit anzeigen. Nur Verbrechen, die mit lebenslanger Strafe bedroht sind, verjähren gar nicht - etwa Mord.

Mit genau diesem aber vergleicht Udo Jesionek, Präsident der Opferschutzvereinigung Weißer Ring, schweren sexuellen Missbrauch von Minderjährigen (§ 206 StGB). „Es gibt Verbrechen, die in die Nähe des Mordes kommen, die die Seele von Kindern morden. Hier sollte man die Verjährungsfrist streichen." Bei schwerer Gewalt will der langjährige Richter zumindest die Verjährungsfrist verlängern. Es geht ihm dabei vor allem „um die Signalwirkung": „Ich denke, es gibt insgesamt einen gesellschaftlichen Wandel in die Richtung, dass man Gewaltdelikte schwerer beurteilt als Vermögensdelikte." Ein anderer Grund ist für Jesionek, dass gerade bei sexuellem Missbrauch die Hemmungen, darüber zu reden, sehr hoch seien. Die Opfer bräuchten viel Zeit. Ähnlich argumentiert Hedwig Wölfl von der Kinderschutzeinrichtung „Die Möwe": „Man sollte einmal alle Missbrauchsfälle dahingehend analysieren, wie lange die Opfer geschwiegen haben." Danach solle die Politik über eine Verlängerung der Frist oder eine Aufhebung nachdenken.

Was bringt Vergeltung?

Im Justizministerium sieht man aber keinen Bedarf. „Das ist nach der Verschärfung vor zwei Jahren nicht in Diskussion", heißt es aus dem Büro von Ministerin Beatrix Karl (ÖVP). FPÖ und BZÖ hingegen sind für eine rückwirkende Aufhebung der Verjährungsfrist, SPÖ und Grüne können sich laut dem ORF-Radio „Ö1" Diskussionen über künftige Änderungen vorstellen.

Die Meinung des Ministeriums wird auch vom Verjährungsexperten Robert Kert von der Uni Wien gestützt. Eine Verschärfung, sagt Kert, würde bei Altfällen wie jenem vom Wilhelminenberg nicht helfen: Artikel sieben der Menschenrechtskonvention verbietet nämlich, dass verjährte Fälle wieder aufleben. Tatsächlich war die Neuregelung 2009 schon insofern „opferfreundlich", als nicht nur neue Fälle, sondern alle erfasst wurden, die damals noch nicht verjährt waren.

Für die Abschreckung von konkreten oder potenziellen Tätern, so Kert weiter, bringe eine Aufhebung der Frist auch nichts: „Sonst ist man sehr schnell im Vergeltungsdenken. Verjährung gibt es ja auch deshalb, weil das Strafbedürfnis mit zunehmendem Abstand zur Tat nachlässt." Bei Serientätern, die innerhalb der Verjährungsfrist wieder zuschlagen, ende die Verjährung der ersten Tat sowieso erst, wenn die letzte verjährt sei. Bei einem Problem sind sich Gegner und Befürworter aber einig: der schwierigen Beweisbarkeit. Nach vierzig Jahren sexuellen Missbrauch zu beweisen ist sehr kompliziert. Eine Klage hat trotz neuer Verfahren zur Beweisauswertung relativ wenig Aussicht auf Erfolg. Das gesteht auch Jesionek ein: „Man muss die Opfer auch jetzt immer vorwarnen, dass das Risiko eines Freispruchs besteht."

Zwang zum "ewigen Opfer"

Ein Freispruch für den Peiniger ist aber nicht das einzige Problem, das die Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner bei der Debatte sieht: „Es ist schon klar, dass niemand einen brutalen Missbrauch ad acta legt, aber man muss schon fragen, ob jeder Übergriff lebenslange Folgen haben muss. Für manche Betroffene entsteht durch die Berichterstattung der Eindruck, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, wenn sie damit abgeschlossen haben. Es ist so, als wäre es fast unanständig zu sagen, dass es sich für einen nach 40 Jahren erledigt haben kann." Dieser Zwang zum „ewigen Opfer" sei, so Kastner, auch „eine Art von Übergriff".

Auf einen Blick

Die Verjährungsfrist beginnt im Regelfall nach der Vollendung der Tat. Bei Missbrauch und Misshandlung von Minderjährigen (§ 58 StGB) jedoch läuft die Frist (fünf bis 20 Jahre) erst ab der Vollendung des 28. Lebensjahrs des Opfers. Diese Regelung wurde 2009 verschärft, gilt aber nicht für Altfälle. Die zivilrechtlichen Fristen (z. B. für Schadenersatz) beginnen aber meist bereits mit der Tat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2011)

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