„Schöne neue Welt“ der Gendiagnosen?

(c) EPA (National Geographic Channel)
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Das gesamte Genom eines Ungeborenen kann aus einem Tropfen Blut seiner werdenden Mutter gelesen werden. Das bringt hohen Diskussionsbedarf – und noch höhere Profite. Erste Patentkriege sind entbrannt.

Wenn ein werdendes Kind von einer Erbkrankheit bedroht ist, weil einer der Elternteile sie in den Genen hat, dann gab es früher nur eine Möglichkeit, Klarheit zu gewinnen: Man musste eine Probe vom Fruchtwasser der Mutter oder von der Plazenta des Embryos nehmen. Aber solche invasiven Methoden sind nicht ungefährlich: Eines von hundert Kindern kommt zu Tode. Soll eine Schwangere das beispielsweise dann riskieren, wenn sie selbst am DiGeorge-Syndrom leidet? Das ist ein Defekt am Chromosom 22, er bringt unterschiedlichste Leiden, von Herzkrankheiten über Essstörungen bis zu Krämpfen, sie alle hängen damit zusammen, dass der Kalziumstoffwechsel nicht richtig funktioniert.

Deshalb kann mit Kalzium therapiert werden, aber zuerst muss das Leiden diagnostiziert sein, und das gelingt – wegen der Fülle der Symptome – auf herkömmlichen Wegen oft erst spät. Aber nun ist der Königsweg geöffnet: Man kann in einem einzigen Tropfen Blut der werdenden Mutter lesen, ob sie ihrem Kind das DiGeorge-Syndrom vererbt hat, die Therapie kann dann unmittelbar nach der Geburt beginnen. Und man kann nicht nur dieses eine Gen des Kindes im Blut der Mutter analysieren, man hat dort auch alle anderen Gene des Embryos, das gesamte Genom. Natürlich kann das nicht jedermann, aber einer kann es, Stephen Quake (Stanford), er hat eine Entwicklung auf den Höhe- und Endpunkt getrieben, die 1949 begonnen hat. Damals bemerkte man, dass in unserem Blut auch freie DNA schwimmt, unsere eigene.

Wird es ein Mädchen? Hat es Trisomie 21?

Aber im Blut Schwangerer schwimmt noch etwas, freie DNA des Embryos. Dennis Lo (Hongkong) bemerkte es 1997, er brachte die „nichtinvasiven pränatalen Gendiagnosen“ (NIPD) auf den Weg. Die gehen davon aus, dass sich im Blut der Mutter drei Genome finden: das der Mutter, das der mütterlichen Gene im Embryo und das der väterlichen Gene im Embryo. Dann muss man nur genau hinschauen bzw. zählen und rechnen: Schwimmt im Mutterblut etwa kein männliches Sexualchromosom – das Y, es kommt nur vom Vater –, dann ist ein Mädchen auf dem Weg. Und findet sich im Blut der Mutter eine Aneuploidie, droht Böses: Aneuploidien sind falsche Chromosomenzahlen, die meisten töten früh, mit einer kann man leben, Trisomie 21, „Downsyndrom“.

Auf dieses konzentrierten sich die Forscher zunächst, Lo und Quake und andere entwickelten und kommerzialisierten NIPD-Tests. Aber nicht alles zeigt sich so leicht wie das Y-Chromosom und eine Aneuploidie, bei einzelnen Genen wird die Rechnung komplizierter. Aber sie funktioniert, weil sich etwa an der Menge eines von der Mutter ererbten Gens des Embryos im Blut der Mutter zeigt, ob der Embryo dieses Gen auch hat (oder das vom Vater): Ist das Gen gehäuft, hat das Kind das Gen der Mutter. Schwierig ist das Rechnen trotzdem, erst vor einem Monat kam das erste komplette NIPD-Genom, Jacob Kitzman (University of Washington) hatte es sequenziert, er hatte die Mütter um Blut gebeten und die Väter um Spucke (Science Translational Medicine, 6.6.).

Und nun kommt Quake auch noch ohne die Väter aus, die ja oft unbekannt sind oder nicht die, die sich dafür halten: Er braucht nur das Blut der Mutter. Das hat er u.a. bei einer Frau gezeigt, die das DiGeorge-Syndrom hat: Ihr Kind wird es auch haben, man kann früh therapieren (Nature, 4.7.). Natürlich ist das Beispiel mit Bedacht gewählt: Niemand wird etwas gegen den Test auf DiGeorge und Ähnliches haben. Die weiteren Aussichten allerdings sind schwindelerregend: Man hat ja das gesamte Genom, nicht nur Genmutationen, die mit Sicherheit krank machen, sondern auch solche, die nur ein Risiko für irgendein Leiden bringen. Soll die werdende Mutter dann über eine Abtreibung nachdenken? Soll sie es gar, wenn das kommende Kind nicht das erwünschte Geschlecht hat – in halb Asien werden Mädchen abgetrieben – oder die falsche Haarfarbe? Bioethiker Henry Greely fürchtete 2011 schon eine „schöne neue Welt weit verbreiteter Gendiagnosen“ (Nature, 469, S.289), er forderte dringlich eine breite Ethikdebatte, Lo schloss sich später an.

Höhere Bio- und Finanzmathematik

Trotzdem herrscht nun, wo der „Proof of Principle“ da ist, weithin Schweigen. Die Wissenschaftsjournale debattierten Quakes Publikation nicht, auch Tageszeitungen blieben verhalten. Nun ja, am gleichen Tag wurde das Higgs-Boson präsentiert! Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Ein Pressesegment berichtete ausführlich, das der Wirtschaftsblätter, vom „Wall Street Journal“ abwärts. NIPD ist nicht nur höhere Biomathematik, es verspricht auch Umsatzexplosionen.

Deren Vorbeben zeigen sich schon: Auf dem Feld tummeln sich fünf Firmen, die mit den Forschern im Geschäft sind – Branchenpionier und -führer Sequenom mit Lo, Konkurrent Verinata mit Quake bzw. seiner Universtät –, und untereinander liegen sie in einem schnell eskalierenden Krieg um die Patente (Nature, 486, S.454). Sequenom will die Alleinherrschaft, aber nicht nur die Konkurrenz hält wenig davon, auch Bioethikerin Mildred Cho (Stanford) tut es: „Wenn eine Firma das Monopol hat, kann sie den Standard und die Qualität diktieren.“ Den Preis natürlich auch: Tests auf Trisomie 21 kosten zwischen 795 und 2762 Dollar, ganze Genome werden teurer kommen.

Pränatale Gentests

Bisherige Tests der Gene von Embryos waren invasiv – Entnahme von Fruchtwasser- oder Plazentaproben – und riskant: Eines von hundert Kindern kommt zu Tode. Nun gibt es „nicht invasive pränatale Gendiagnosen“ (NIPD), sie kommen mit einem Tropfen Blut der werdenden Mutter aus. Daraus können die Forscher das gesamte Genom des Embryos errechnen. Erste Tests, etwa auf Trisomie 21 („Downsyndrom“), sind schon auf einem hart umkämpften Markt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2012)

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