Bringt Forschung die Schuld zum Verschwinden?

Bringt Forschung Schuld Verschwinden
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Wie reagieren Richter darauf, dass immer mehr Gewaltverhalten von Neurologen und Genetikern erklärt und damit juristischen, moralischen und philosophischen Kategorien entzogen wird? Ein US-Forscher erkundet es.

Im Jahr 1983 vergewaltigte Brian Dugan in Illinois ein 13-jähriges Mädchen, dann schlug er es tot, im Jahr darauf tat er das Gleiche mit einer jungen Frau, dann wieder mit einem Kind. Die Polizei griff ihn auf und legte ihm die letzten beiden Taten zur Last. Aber Dugan hatte eine Überraschung und schlug der Justiz einen Handel vor: Er habe auch die Tat 1983 begangen – derer er nicht verdächtigt wurde –, er werde alles gestehen, sofern ihm die Todesstrafe erspart bleibe.

Die Justiz ging darauf nicht ein, sie konnte es auch nicht: Für die erste Tat hatte sie zwei andere Männer hinrichten lassen. Deren Schuldlosigkeit bzw. die Schuld Dugans kam erst 2002 ans Licht, durch DNA-Analysen. Dugan, der inzwischen lebenslang saß, wurde neu angeklagt. 2009 griff sein Verteidiger zu einem neuen Beweismittel, der funktionellen Magnetresonanztomografie, fMRT. Das ist eines der bildgebenden Verfahren, die zeigen, was im Gehirn vor sich geht, viele Hirnforscher arbeiten damit, auch Kent Kiehl, University of New Mexiko, er hat sich auf Psychopathen spezialisiert. Das sind Menschen ohne jegliches Einfühlungsvermögen in andere („Empathie“), sie haben auch sonstige Eigenheiten, Kiehls Lehrer Robert Hare hat eine „Psychopathy Checklist“ entwickelt, sie stützt sich auf Interviews, im Extrem kommen 40 Punkte zusammen.

Umstrittene Aussagekraft von Hirnscan

Dugan brachte es auf 38. Sein Verteidiger wollte das Gericht davon überzeugen, dass die Gründe dafür in der Hirnphysiologie liegen. Deshalb die fMRT-Röhre, in sie darf kein Metall, man nahm Dugan die Handschellen ab, Kiehl hatte Ersatz aus Plastik. Dann lief die Maschine, und Kiehl fand Hirnareale, die so verändert waren wie bei manchen anderen Psychopathen. Das trug er dem Richter und den Geschworenen vor. Ein Gegenexperte der Staatsanwaltschaft nahm das Gutachten auseinander: 26 Jahre nach einer Tat sei eine fMRT völlig sinnlos, weil sich das Gehirn entwickelt; zudem sage fMRT viel über summierte Gehirne von Gruppen aus, aber wenig über die von einzelnen Individuen. Dieser Kritik schlossen sich Kollegen Kiehls an, sein Vorpreschen hat die Zunft gespalten (Nature, 464, S. 340).

Und Dugan hatte zunächst auch nichts davon, er erhielt ein Todesurteil. (Allerdings wurde dann die Todesstrafe in Illinois abgeschafft, Dugan sitzt weiter lebenslang.) Aber nun war mit fMRT wieder ein neues Beweismittel in der Justiz, Schritt für Schritt dringen die Biologen bzw. Mediziner vor. 1982 wurde erstmals eine Computertomografie zugelassen, dann kamen DNA-Analysen, zunächst zur Identifikation der Täter, später auch zu ihrer Charakterisierung: 2007 erhielt ein Mörder in Italien mildernde Umstände wegen psychischer Leiden. Psychiater hatten ihn getestet, der Richter verurteilte ihn zu neun Jahren und drei Monaten, ein Gesunder hätte drei Jahre mehr bekommen. Der Verteidiger beantragte eine zusätzliche Analyse der Gene für MAOA, einen Neurotransmitter, der bei hoher Konzentration mit der Neigung zu Gewalt in Verbindung gebracht wird: Der Angeklagte hatte die Variante, er erhielt weiteren Strafnachlass. Nun war auch die Zunft der Genetiker gespalten, Steve Jones (University College London) etwa kommentierte so: „90 Prozent aller Morde werden von Menschen mit einem Y-Chromosom begangen – Männern. Sollen wir deshalb Männer immer milder bestrafen?“

Jones ging es nicht nur darum, dass von den Genen zum Verhalten ein weiter Weg ist, ihm ging es auch ums Prinzip, um die Ablösung eines Richterspruchs durch eine Expertise. Und um biologischen Determinismus. Wenn der schon einem Biologen Probleme bereitet – wie gehen dann erst Richter um mit dem wachsenden Heer der Naturwissenschaftler im Gerichtssaal? James Tabery (University of Utah) hat es erkundet: Er hat einen fiktiven Fall zu Papier gebracht und 181 US-Richter um ihr Urteil gebeten. Alle erfuhren, dass der Täter ein Psychopath ist, für die weiteren Informationen wurden vier Gruppen gebildet: Eine bekam die „Psychopathen“-Information von der Anklage, eine von der Verteidigung; und einmal stand da nur „Psychopath“, das andere Mal waren erklärende Expertisen beigelegt, sowohl von Hirnforschern als auch von Genetikern.

Theoretisch kann die Charakterisierung als „Psychopath“ nach zwei Richtungen wirken: strafmildernd, weil der Mann nicht zurechnungsfähig ist; strafverschärfend, weil so einer keine Bedrohung mehr werden darf. In der Praxis ging „Psychopath“ zulasten des Angeklagten, er erhielt durchschnittlich 13,93 Jahre, zwei Jahre mehr als für die Tat üblich. Aber wenn eine wissenschaftliche Erklärung dabei war und diese obendrein von der Verteidigung vorgetragen wurde, entdeckten die Richter mehr mildernde Umstände, dann verurteilten sie zu nur 12,83 Jahren (Science, 337, S. 846).

Allerdings stand hinter diesem Urteil ein zweites, so hilfloses wie salomonisches: Die gleichen Richter, die unter Experteneinfluss mehr mildernde Umstände entdeckten, blieben in der Zentralfrage – der nach der Freiheit des Willens (des Angeklagten), der Forscher hatte sie in einem Fragebogen zusätzlich gestellt – unverrückbar: Sie sahen diese Freiheit in keiner Weise eingeschränkt, mochten sie noch so viele Einschränkungen als Milderungsgründe verbucht haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.087.2012)

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