Das Alter der Menschheit ist ungewisser denn je

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Die Paläoanthropologie verliert den Boden unter den Füßen, weil alle ihre Zeitdaten auf falschen Berechnungen beruhen.

Vor fünf Millionen Jahren trennte sich der Mensch vom Schimpansen, vor 300.000 Jahren spalteten sich die Neandertaler von der Linie ab, die zu Homo sapiens führte, vor 70.000 Jahren erwanderte der von Afrika aus die Erde. Das sind Basisdaten, um die herum die Menschheitsgeschichte seit 45 Jahren (re)konstruiert wird. Nur: Sie sind allesamt falsch. Sie sind errechnet, um eine Unbekannte herum, die Mutationsrate, das ist die Zahl der Mutationen, die pro Generation neu in eine Art kommen, „de novo“.

Kennt man sie, und hat man einen Referenzpunkt, kann man kalkulieren: Die für uns entscheidende Referenz ist das älteste Orang-Utan-Fossil: Das Tier lebte vor 13 Millionen Jahren. Nun zählt man die genetischen Unterschiede zwischen heutigen Orang-Utans und Menschen, aus ihnen kann man dann die Mutationsrate ableiten. Bis hierher ist noch alles halbwegs gesichert – mehr nicht, der älteste gefundene Orang-Utan war mit aller Wahrscheinlichkeit nicht der erste Orang-Utan –, der Rest, die Extrapolation auf andere Arten, hängt allein an der Präzision des Werts der Mutationsrate: Von unseren nächsten Verwandten, Schimpansen und Gorillas, hat man überhaupt keine Fossilien, man konnte nur rechnen und geriet damit bald in Schwierigkeiten: Frühe Menschen wie Sahelanthropus, lebten vor sechs Millionen Jahren, also vor der „Trennung“ von Mensch und Schimpanse; noch drastischer ist das Bild beim Neandertaler: Fossile Funde sind doppelt so alt wie die errechnete Trennung von Homo sapiens.

Mutationsrate wurde weit überschätzt

Darüber sahen die Genrechner lange hinweg, dann kam – wie oft in der Forschung – die Revolution aus ihren eigenen Reihen: Seit einigen Jahren gibt es so viele sequenzierte Genome – auch von Eltern und ihren Kindern –, dass man die Mutationsrate bei Menschen nicht mehr über den Daumen peilen muss, sondern präzise messen kann. Acht große Studien gab es in den letzten drei Jahren, sie alle kamen auf annähernd den gleichen Wert. Der ist nicht einmal halb so hoch wie der bisher angenommene und den Rechnungen zugrunde gelegte. Das heißt umgekehrt, dass alle Zeitpunkte für die Entstehung von Arten weit in die Vergangenheit geschoben werden müssen, die der Orang-Utans etwa auf 43 bis 46 Millionen Jahre.

Das kann aber auch nicht sein, „das wäre absolut verrückt“, urteilt David Begun (Toronto). Alle Fossilien sprechen dagegen, deshalb sucht man Abhilfe: Man kennt schließlich nur die Mutationsrate der heutigen Menschen. Und manche vermuten, dass die sich über die Jahrmillionen und Arten – mit ihren verschiedenen Körpergrößen und Generationszeiten – verändert hat, andere sehen sie mit der Populationsgröße schwanken, wieder andere mit dem Alter, in dem Männer sich reproduzieren (Science, 338, S. 189). „Die Mutationsraten hängen völlig in der Luft“, bedauert Svante Pääbo (Leipzig), und für die Paläoanthropologen, schließt Christ Stringer (London), ist nun „alles finster“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2012)

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