Phänomen Graböffnung: Es war nicht immer Raub und Gier

Phänomen Graböffnung
Phänomen Graböffnung(C) Fabry
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Eine Wiener Archäologin entwickelt Methoden, die zeigen sollen, ob Gräber aus räuberischer Absicht oder aus rituellen Gründen nach der Bestattung geöffnet wurden.

Archäologen stoßen oft auf Gräber mit eigenartigen Inhalten: Da liegen Knochen komplett durcheinander, und Objekte scheinen aus Gräbern entfernt worden zu sein. Anderswo findet man Tote in bizarren Körperpositionen. Manchmal fehlen Körperteile oder sie sind doppelt vorhanden. Solche Grabfunde können bedeuten, dass ein Grab geöffnet wurde.

Bisher war die erste Reaktion von Archäologen, die ein Grab entdeckten, das nach der Bestattung wieder geöffnet worden war: Grabraub! „Solche – auch als ,gestört‘ bezeichneten – Gräber haben viele Forscher einfach nicht interessiert, weil sie dachten, dort fehlen Wertgegenstände und der Zustand des Grabes ist nicht mehr ursprünglich“, erklärt Edeltraud Aspöck von der Abteilung für Prähistorische Archäologie der ÖAW. Dass aber die Öffnung von Gräbern nach der Bestattung in einigen Kulturen vielleicht Teil eines Ritus oder Tradition war, daran haben Archäologen lange nicht gedacht.

Aspöck hat schon im Rahmen ihrer Diplomarbeit gezeigt, dass bei der Auswertung solcher Gräber durchaus spannende Ergebnisse zu erwarten sind. Die in Brunn am Gebirge entdeckten 42 Gräber der Langobardenzeit (etwa 6. Jh. n. Chr.) wurden alle wiedergeöffnet und Gegenstände, vor allem Schmuck und Waffen, entfernt. Bei der Durchführung dieses „Grabraubs“ wurde anscheinend anders verfahren, je nachdem ob der Tote schon vollständig skelettiert oder noch nicht verwest war. Hinweise auf den Grad der Verwesung des Toten und des Grabes bekommen Archäologen anhand der Art der Verlagerung von Knochen oder Gegenständen im Grab. Es gibt viele Anzeichen, ob ein Grab nicht von den Archäologen erstmals geöffnet wurde, sondern schon in früheren Zeiten. „Das sah man in Brunn v.a. an komplett durcheinanderliegenden Knochen. Anderswo erkennt man es daran, dass Dinge fehlen: Manchmal kann man an den Knochen noch die Farbspuren von Armreifen sehen, aber der Schmuck fehlt. Oder es ist außer dem ursprünglichen Grabschacht auch ein später gegrabener Schacht sichtbar, wir nennen das ,Störungsschacht‘. Manche Gräber wurden nach der Öffnung gar nicht mehr geschlossen“, erzählt Aspöck.

Gründe, Gräber zu öffnen, gibt es viele: Graböffnungen können Teil eines Bestattungsrituals sein, bei dem Körper vielleicht nur für eine kurze Zeit begraben wurden. Belegt sind auch Graböffnungen zur Reliquiengewinnung oder weil man Wiedergänger „befrieden“ wollte. Auch die Entfernung von Gegenständen aus Gräbern kann verschiedene Bedeutungen haben: von rein räuberischer Absicht bis zu rituellen Traditionen – Raub und Gier müssen also nicht die Hauptmotive gewesen sein.

Aspöck will nicht behaupten, dass es überhaupt keinen Grabraub gab: „Die Übergänge zwischen rituellen Öffnungen und räuberischen Absichten sind wahrscheinlich fließend. Man muss bedenken, dass die menschlichen Überreste und Gegenstände im Grab nicht nur Verwesungsprozessen unterlagen, sondern auch eine Bedeutungsänderung erfuhren.“


Veränderter Zustand. Daher sollte nicht nur die Grablegung, sondern auch die Graböffnung untersucht werden, doch diese Forschungsrichtung ist noch recht jung. „Wir können die Graböffnungen als archäologische Quelle verstehen: Warum und wann ein Grab nach der Bestattung wieder geöffnet wurde, sagt viel über die Kultur dieser Zeit aus“, ist Aspöck überzeugt. Methodisch sind Analysen geöffneter Gräber nicht einfach, da nicht nur Menschen den Zustand der Gräber verändert haben können, sondern auch die Natur (Verrottung, Erdbewegungen) inklusive von in der Erde grabenden Tieren. Diesem Problem widmet sich Aspöck in ihrem Hertha-Firnberg-Projekt des FWF über die Interpretation wiedergeöffneter Gräber. Das Verständnis des Entstehungsprozesses eines Grabfundes soll in diesem Projekt verbessert werden. Das ist notwendig, um die menschlichen Handlungen bei der Graböffnung von anderen Vorgängen zu unterscheiden. Die neuen Methoden zur Untersuchung von wiedergeöffneten Gräbern werden nun in Feldforschungen angewandt. Dazu arbeitet die Archäologin mit Kollegen der paläolithischen Forschungsgruppe ihrer Abteilung an der ÖAW zusammen.

Paläolithische Forschungen (Altsteinzeit) arbeiten mit sehr feinen Grabungsmethoden. Außerdem nutzt Aspöck genaue Bodenanalysen, detaillierte Dokumentation, ebenso das feine Sieben nach kleinsten Stückchen und die Analyse des Zustands der Knochen. So soll der Entstehungsprozess wiedergeöffneter Gräber sichtbar gemacht werden: Wie viel Zeit ist zwischen Grablegung und Öffnung vergangen, wie sind der Körper und die Gegenstände ursprünglich gelegen, was hat sich durch natürliche Prozesse verändert, welche Körperteile wurden von Menschen verlagert, welche durch den natürlichen Zerfall (Hände und Füße zersetzen sich als erstes), wo waren Hohlräume, die sich auf die Knochenlage ausgewirkt haben – und so weiter. „Wir wollen Daten liefern, um die Intentionen der Graböffnung schneller erkennbar zu machen. Die neuen Kenntnisse werden dann in die Methode für die Auswertung früherer Ausgrabungen aufgenommen. Wir werden Beispiele vom späten Neolithikum bis zum frühen Mittelalter in Zentraleuropa untersuchen.“ Aspöck erwartet, dass sich zeitliche und räumliche Unterschiede herauskristallisieren. „Es könnte durchaus sein, dass sich auch einige Ansichten zu Bestattungspraktiken der verschiedenen Zeiten ändern.“

Wo genau Aspöck und ihr Team zu graben beginnen, ist noch nicht klar: Die Kooperationspartner vom Bundesdenkmalamt liefern kurzfristig Informationen, wenn andere Archäologen bei Grabungen auf geöffnete Gräber stoßen. „Dann wird sich unser Team einklinken“, so Aspöck.

Sie freut sich jedenfalls schon auf die Feldforschung, die ein Ausgleich für die Arbeit am Computer und Schreibtisch ist. Dass ihr das Graben gefällt, wusste Aspöck schon als Schulmädchen: In einem Sommer vergrub sie eine kleine Schatzkiste im Garten der Eltern. Ein Jahr später konnte der Schatz leider nicht mehr gefunden werden. Inzwischen ist ihre Erfolgsquote bei der Suche nach „Schätzen“ um einiges höher.

Stangen & Haken

Bei Graböffnungen – aus welchen Gründen auch immer – wurden oft Schächte gegraben, die kleiner als das ursprüngliche Grab waren. Stieß man auf einen intakten Sargdeckel, dann wurde der Grabinhalt mit einem Hakenstock o.ä. durchwühlt. War der Sarg bereits zusammengebrochen, wurde der Schacht erweitert. Stellen, wo man graben könnte, wurden bisweilen per Sondagen mit Stangen eruiert – Einstichlöcher und Schäden an Knochen, die dazu passen, wurden immer wieder gefunden. ÖAW/Aspöck

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2013)

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