Altes Hirn wird wieder jung?

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Symbolbild(c) REUTERS (CHRIS HELGREN)
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Just dort, wo das Gedächtnis sitzt, werden dauernd neue Zellen gebildet. Der Fallout der Bombentests bringt es ans Licht.

Erinnern Sie sich noch, wann die letzte Atombombe zu Testzwecken oberirdisch gezündet wurde? Dann sind Sie erstens in eher fortgeschrittenem Alter – der Testwaffenbann trat 1963 in Kraft –, und zweitens funktioniert es bei Ihnen noch gut, das zerbrechliche Wunderwerk des Gehirns, in dem 100 Milliarden Zellen ihre ganzen Leben lang – und Ihr ganzes Leben lang – auf höchstem Niveau arbeiten und arbeiten und arbeiten. Und das, ohne je erneuert zu werden, Nachschub von jungen Zellen zu bekommen, so wie es im restlichen Körper ganz selbstverständlich ist: Haut und Haare werden unentwegt erneuert, eine durchschnittliche Darmzelle lebt 10,7 Jahre, eine durchschnittliche Muskelzelle 15,1.

Nur eine durchschnittliche Hirnzelle wird nie abgelöst, sie ist 80 Jahre alt, wenn ihr Träger es ist. So stand es zumindest in den Lehrbüchern, und für die durchschnittliche Gehirnzelle stimmt es auch, sie ist bei der Geburt des Menschen da und begleitet ihn dann. (Es ist komplizierter: Embryos entwickeln viel mehr Gehirnzellen, doppelt so viele, aber die Hälfte verschwindet wieder, es ist ein ungelöstes Rätsel.)

Tumormedikament bezeugt Zellalter

Aber die durchschnittliche Gehirnzelle gibt es natürlich nicht: Manche Zelltypen im Gehirn erneuern sich schon – die Gliazellen etwa, sie dienen dem Stützen und Isolieren der anderen Zellen –, und auch die „eigentlichen“ Hirnzellen, die Neuronen, erneuern sich in manchen Hirnregionen, vor allem in der, in der das Gedächtnis sitzt. Das bemerkte man 1944 an Gehirntumoren des Menschen, dann vergaß man es, das gibt es auch in der Wissenschaft. In den 1980er-Jahren bemerkte man es wieder, an Mäusen, 1998 dann an Menschen. Das gelang Peter Eriksson und Jonas Frisén (Götheburg), sie hatten einen Marker für das Zellalter entdeckt: Bei Mäusen konnte man die Neubildung von Nervenzellen („Neurogenese“) mit Chemikalien und Radioisotopen verfolgen, bei Menschen verbot sich das. Aber ein Schlupfloch gab es: Bromdesoxyuridin, BrdU. Das ist ein Analogon zur Nukleinsäure Thymidin, einem der Bausteine der DNA. An seiner Stelle kann BrdU eingebaut werden – sofern vorhanden –, dann wird die DNA schwächer.

Deshalb wollte man BrdU gegen Tumore einsetzen, sie sollte Strahlen- und Chemotherapien unterstützen. Es half nicht viel.Aber es gab einen „windfall profit“, einen unerwarteten Gewinn: An BrdU konnte man sehen, ob eine Zelle die Chemikalie in ihrer DNA hatte, ob sie also eine neue Zelle war.

Solche Zellen fanden sich bei einer Testperson, die sich von Erikson/Frisén BrdU ins Gehirn injizieren ließ, sie fanden sich natürlich erst später, nach dem natürlichen Tod dieses Freiwilligen, als das Gehirn analysiert werden konnte. Damit war das „proof of principle“ geleistet. Aber wie viele Zellen neu waren, konnte diese Methode nicht zeigen – später merkte man auch, dass BrdU giftig ist, das verbot eine Wiederholung des Experiments –, man brauchte feinere diagnostische Mittel. Frisén fand eines, den radioaktiven Kohlenstoff – 14C – aus den eingangs erwähnten Atombombentests, über 500 gab es in den 1950er- und 1960er-Jahren.

14C wird in der Atmosphäre immer gebildet, durch hereinprasselnde kosmische Strahlung, darauf beruht das ganze Radiokarbondatieren der Archäologen: 14C wird von Pflanzen bei der Fotosynthese aufgenommen, aus seiner Konzentration lässt sich das Alter bestimmen. Aber die Bombentests brachten viel mehr, auch das ging über die Nahrungskette zu uns und in unsere Zellkerne bzw. deren DNA. Dort liegt es unverändert – relativ unverändert: 14C hat eine Halbwertszeit von 5730 Jahren –, dort bezeugt es bzw. sein Verhältnis zum nicht radioaktiven Kohlenstoff, wann das 14C in eine Zelle geriet: Wie alt sie ist.

Dafür braucht es feinste Messtechnik – statistisch gibt es ein 14C-Isotop pro 15 Zellkernen –, Frisén hat sie entwickelt und kann nun, nach der Analyse von 55 Gehirnen, bilanzieren: In erwachsenen Menschen werden jeden Tag im Hippocampus – dort sitzt das Gedächtnis, dort wird Kurzzeit- zu Langzeiterinnerung verfestigt – 700 neue Zellen gebildet, das macht 1,75 Prozent des Hippocampus im Jahr (Cell, 153, S.1219). „Wir haben erstmals gezeigt, dass das ganze Leben lang eine substanzielle Neurogenese im Hippocampus stattfindet“, schließ Frisén: „Das legt nahe, dass diese neuen Neuronen zur Hirnfunktion betragen könnten.“

700 neue Zellen am Tag: Wohl oder Wehe?

Das ist mit Vorsicht formuliert. Denn ob diese neuen Zellen sich in den Verband der alten einfügen und was sie dort tun, ist noch unklar. Arbeiten sie zum Wohl des Gehirns? Zu seinem Wehe? Beides ist möglich – vielleicht gibt es im Gehirn deshalb so wenige Neuerung, weil jede neue Zelle die heikle Balance stört –, es könnte aber auch sein, dass diese Neurogenese ein Erbe ist, das einfach funktionslos mitgeschleppt wird.

Frisen hat derzeit keinen Überblick, wie gesund oder krank die Menschen waren, deren Gehirne er analysierte: „Wie Neurogenese mit Demenz zusammenhängt, ist einer der Punkte, die wir weiterverfolgen wollen.“ Viele werden gespannt warten: Die Alterskrankheiten des Gehirns, Alzheimer allen voran, bedrohen immer mehr Menschen, Therapien gibt es nicht. Es gibt nur die große Hoffnung, dass irgendwann Ersatz für kranke oder funktionsunfähig gewordene Hirnzellen kommen könnte – aus embryonalen Stammzellen. Nervenzellen kann man daraus schon ziehen, aber was die im Gehirn tun würden, weiß niemand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2013)

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