X-Chromosom: Gene für die Spermaproduktion

X Chromosom Gene fuer Spermaproduktion
X Chromosom Gene fuer Spermaproduktion(C) Nature
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Just das Geschlechtschromosom, das die Frauen doppelt haben, enthält viele Gene, die nur in Männerkörpern aktiv werden. Und sich im Lauf der Evolution rasch verändern.


Wer kann sich noch an die protzige Verkündigung der „Entschlüsselung“ des menschlichen Genoms im Februar 2001 erinnern? Gleich zwei Forscherteams – das staatlich geförderte „Human Genome Project“ und Craig Venters private Firma Celera – behaupteten, sie hätten das menschliche Erbmaterial vollständig sequenziert, US-Präsident Clinton schwärmte von der „Sprache, in der Gott das Leben geschaffen hat“. Spätestens als 2003 verkündet wurde, nun sei das Genom aber „endgültig“ bekannt, war auch Wohlmeinenden klar, wie hier geschwindelt wurde. Nein, unser Genom war und ist nicht vollständig gelesen, es sind in ihm noch große Überraschungen zu finden. Bis heute.

Unterschiede zwischen Maus und Mensch


Etwa im X-Chromosom, dem bei Weitem größeren der beiden Geschlechtschromosomen. Von ihm haben die Männer eines und die Frauen zwei. (Was mit sich bringt, dass Leiden, die durch Defekte von Genen auf dem X-Chromosom entstehen, meist nur bei Männern auftreten, etwa Rotgrünblindheit oder die Bluterkrankheit.) Forscher um David Page (MIT) haben entdeckt, dass sich auf dem X erstens viele Gene finden, die die Spermatogenese und damit die männliche Fruchtbarkeit steuern. Zweitens, dass just diese Gene – entgegen bisherigen Annahmen – bei Menschen und Mäusen sehr unterschiedlich sind, dass sich also auf dem X-Chromosom einiges an Evolution abspielt (Nature Genetics, online 21. 7.).

Wie konnten sich diese Gene bisher vor den Genforschern verstecken? Nun, diese tun sich notorisch schwer mit stark repetitiven Abschnitten, in denen Gene stecken, die einander sehr ähnlich, aber doch nicht ganz gleich sind. Und das ist häufig. Die DNA-Geschichte ist voll der – oft von Viren-Elementen besorgten – Verdopplungen und Vervielfachungen, die damit mehrfach vorhandenen Gene können sich dann auseinanderentwickeln, neue Aufgaben übernehmen. Das ist ein wichtiger Motor der Evolution.

Warum gibt es das Y-Chromosom noch?


Das Labor von David Page ist durch Arbeiten über den kleinen Bruder des X-Chromosoms berühmt geworden: das Y, das nur Männer in ihren Zellkernen haben, das also kein Pendant hat, mit dem es sich bei der Entstehung der Keimzellen austauschen kann. (Was ja ein wesentliches Feature der sexuellen Fortpflanzung ist.) Daher verliert es, seit sich vor circa 300 Millionen Jahren X und Y aus einem „normalen“ Chromosomenpaar entwickelt haben, an funktionstüchtigen Genen. Warum das Y-Chromosom noch nicht ganz zum Ödland und überflüssig geworden ist, erklärte Page 2003 durch eine seltsame, sozusagen parasexuelle Aktivität: Passagen auf dem Y tauschen sich miteinander aus, das funktioniert, weil sie wie Bild und Spiegelbild sind, vergleichbar mit Palindromen in der Sprache („Otto“, „Ave, Eva“, „Nie solo sein“ etc.).
Solche Palindrome entdeckten die MIT-Forscher auch auf dem X-Chromosom, für das sie freilich nicht überlebenswichtig sein dürften. Jedenfalls ist dieses Chromosom voll der vervielfachten Abschnitte, und genau in diesen Abschnitten sind viele Gene, die für die Spermatogenese wichtig sind und nur in männlichen Keimdrüsen aktiv sind. (Die Gene, die nur in einer Version vorliegen, werden dagegen in beiden Geschlechtern aktiv, in ihnen unterscheiden sich Maus und Mensch auch deutlich weniger.)

Die schnell evolvierenden „Männergene“ auf dem vermeintlich typisch „weiblichen“ X-Chromosom spielen höchstwahrscheinlich eine Rolle bei Unfruchtbarkeit, vielleicht sogar bei Hodenkrebs, sagt Page und prophezeit: „Man wird ein ganzes Buch über diesen Aspekt des X schreiben können.“ Und diese Gene dürften auch in der Evolution der Säugetiere wichtig gewesen sein: Vielleicht verdanken wir ihnen, dass sich diese Klasse der Wirbeltiere so schnell und vielfältig entwickelt hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2012)

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