Die Kariesteufel wüteten schon in der Altsteinzeit

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Vor rund 15.000 Jahren hatten Menschen im heutigen Marokko schon außerordentlich schlechte Zähne – obwohl sie noch gar keine Landwirtschaft betrieben, sondern Jäger und Sammler waren. Schuld waren trotzdem Kohlenhydrate: in diesem Fall aus Eicheln und Pinienkernen.

Unter den Übeln, die uns die Zivilisation beschert hat, ist die Karies, die den meisten von uns Schmerzen und Kosten verursacht. Darauf können sich die Kulturpessimisten einigen, und sie haben nicht unrecht: Die Karies ist zwar eine Infektionskrankheit, die meist von den Eltern auf die Kinder übertragen wird (heutzutage vor allem über Milchflaschensauger), aber die Bakterien, die sie bewirken (Streptococcus mutans), leben von Kohlenhydraten, die sie in Säuren verwandeln, die sich in die Zähne fressen.

Kohlenhydrate, darunter versteht man Zucker im engeren Sinn (Mono- und Disaccharide), aber auch Polysaccharide, das sind große, kettenförmige Moleküle, die von Enzymen in Zucker zerlegt werden: Für uns ist das vor allem Stärke, der Speicherstoff der Pflanzen; für das Polysaccharid Zellulose haben wir (im Gegensatz z. B. zu den Bakterien im Magen der Rinder) keine Enzyme. Die Stärke hat im Zug der agrikulturellen Revolution unsere Ernährung erobert. Die Landwirtschaft brachte uns, je nach Weltgegend, große Mengen an Weizen, Reis, Mais, Gerste, Hafer, Erdäpfel usw.: Sie alle enthalten viel Stärke, die im Mund in Zucker zerlegt wird, von dem sich der Streptococcus nährt. „Die durchschnittliche Zahl der Löcher in den Zähnen von Erwachsenen stieg sprunghaft von weniger als einem auf fast sieben“, so beschrieb der Biologe Jared Diamond, einer der beredtesten Zivilisationsskeptiker, eine böse Folge der agrikulturellen Revolution. Und vor circa einem Jahr bestätigten Genetiker: Die Bakterienflora in den Mündern hat sich mit dem Anbau von stärkehaltigen Pflanzen sprunghaft geändert.

51 Prozent der Zähne waren schadhaft

War die Zeit der Jäger und Sammler also auch in Sachen Zahngesundheit eine goldene? Kannten unsere nicht sesshaften Vorfahren nicht nur weniger Ungleichheit und Unterdrückung, sondern auch keine Zahnschmerzen? Ganz so ist es nicht. Denn auch Jäger und Sammler wussten die Nahrhaftigkeit der stärkehaltigen Pflanzen zu schätzen – wenn sie welche fanden.

Etwa im Gebiet des heutigen Marokko vor circa 14.000 Jahren. In einer Höhle (Grotte des Pigeons) werden dort seit über hundert Jahren die Reste einer Jäger-und-Sammler-Kultur ausgegraben, die man Ibéromaurusien nennt. Anthropologen um Louise Humphrey (Natural History Museum, London) untersuchten die Zähne von Menschen dieser Kultur, die gewiss keine Bauern im heutigen Sinn waren. Aber sie ernteten und verarbeiteten Pflanzen im großen Stil: Eicheln und Pinienkerne vor allem, die sie auch kochten, um sich, wie die britischen Anthropologen schreiben, daraus „porridge“ zu bereiten. Und das schadete ihrem Gebiss: 51 Prozent der Zähne von Erwachsenen zeigten deutliche Spuren von Karies; nur drei von 52 Erwachsenen hatten gar keine Karies. Das entspricht dem Anteil in heutigen industrialisierten Gesellschaften.

Wahrscheinlich lebten die Menschen der Ibéromaurusienkultur für Jäger und Sammler relativ eng zusammen und zeigten schon Tendenzen zur Sesshaftigkeit, schreiben die Forscher: Das habe die Verbreitung der Kariesbakterien begünstigt. Dazu komme eine weitere Lieblingsspeise dieser alten Nordafrikaner: Schnecken. Schleifpartikel von deren Schale könnten zur Abnutzung der Zähne beigetragen haben.

Also: Hauptschuldige sind weiterhin die Kohlenhydrate, aber es müssen keine klassischen Feldfrüchte sein, aus denen sie kommen. Für den heutigen üblen Zustand unserer Zähne ist übrigens eine zweite Revolution verantwortlich, die erst lange nach der agrikulturellen Revolution passiert ist: die industrielle. Sie brachte den raffinierten Zucker, der eben nicht nur für uns eine (allzu) bequeme Nahrung ist, sondern auch für Streptococcus mutans, den alten Feind unserer Zähne.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2014)

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