Anthropologie: Lucy ist nicht mehr unsere Mutter!

Australopithecus afarensis war sehr eng mit Gorillas verwandt, das zeigt sein Unterkiefer. Nicht mit Schimpansen und/oder modernen Menschen.

Du bist wunderbar“, heißt sie auf Amharisch, nüchterner ist sie in den Archiven der Anthropologie verbucht (AL 288-1), am bekanntesten wurde sie als „Lucy“: Ein weiblicher Australopithecus afarensis, der vor 3,2Millionen Jahren in der Region des heutigen Hadar in Äthiopien lebte. Bei ihrem Tod im Alter von etwa 25 Jahren war sie 1,10Meter hoch und etwa 29Kilo schwer und ohne Zweifel bipedal, aufrecht gehend. Ausgegraben wurde sie am 30.November1974, die Finder feierten ausgiebig, auch mit Musik ihrer Zeit, sie dröhnten „Lucy In The Sky With Diamonds“ in die Wüste, so will es zumindest die Legende.

Seitdem ist „Lucy“ unser aller Ahnfrau, so steht es im Museum von Adis Abeba, in dem sie aufbewahrt ist, so steht es in den Lehrbüchern, so färbt ihr Ruhm auf den der Region – Ostafrika = Wiege der Menschheit – und natürlich auch den der Anthropologen, die das Goldstück in Händen hatten und den Stammbaum begründen konnten: Mit Au.afarensis habe vor 3,9 Millionen Jahren die Menschheit begonnen. Nun wird auch das zur Legende: „Der Unterkieferast von Au.afarensis stimmt eng mit dem des Gorillas überein“, berichtet Yoel Rak (Anthropologie, Tel Aviv): „Bei modernen Menschen, Schimpansen und Orang Utans gibt es diese Morphologie nicht“ (Pnas, 9.4.).

„Das heißt, dass diese Australopitheci nicht unsere Ahnen sind“, erklärt Christoph Zollikofer (Anthropologie, Uni Zürich) der „Presse“: „Yoel vermutet das seit einigen Jahren an vielen Kennzeichen, nun hat er es an einem ganz besonderen gezeigt, am Unterkieferast.“ Der hat zwei Fortsätze, hinten den Gelenksfortsatz und vorne den Muskelfortsatz, hinten liegt der Kiefer auf, vorne wird er hochgezogen. Dieser Ast sieht bei Au.afarensis und Gorilla völlig gleich aus – und ganz anders als bei Schimpansen, Homo sapiens und Orang Utans. Das Kennzeichen ist wichtig, Rak hat daran vor Jahren gezeigt, dass Neandertaler anders gebaut waren als Homo sapiens (allerdings kennt man die biomechanischen Folgen nicht, man weiß etwa nicht, ob unser/der Schimpansen/der Orang Utans Bau dem Kiefer eher Freiheit zum Sprechen verlieh).

Sackgasse der Evolution

Der Schädel, den Rak analysierte, wurde 2002 in 2,5 Kilometer Entfernung von Lucy gefunden, er ist 3,1Millionen Jahre alt und besser erhalten als der ihre. Aber auch er gehört einem Au.afarensis, ebenso wie der von „Lucys Tochter“, einem Afarensis-Kind, das seit 2000 aus einem Stein befreit wird, in dem es in den letzten 3,3Millionen Jahren eingebettet war. Auch dieses Kind hat etwas Gorilla-Ähnliches, die Schulter – aber seine Ausgräber wollten es natürlich nicht zum Gorilla-Verwandten entwerten.

Denn der ist ein nur entlegener Verwandter, er hat sich vor neun Millionen Jahren von dem Ast getrennt, der vor sechs Millionen Jahren zu Menschen und Schimpansen führte. Offenbar hat auch er zu einem Frühmenschen geführt – eben Au. afarensis –, aber der war eine Sackgasse der Evolution. Aber wenn nicht von Lucy, wo kommen wir dann her? Rak weist innerhalb der Region auf Ardipithecus ramidus (zwischen 4,5 und 4,3Millionen Jahre alt), der stark einem Schimpansen gleicht. Zollikofer deutet eher nach Südafrika, auch dort gab es Australopitheci, andere, grazilere.

Inline Flex[Faktbox] HOMO: Woher kommen wir?("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2007)

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