Ein Forschungszentrum für Differenzialgleichungen

Tafel mit mathematischen Formeln
Tafel mit mathematischen FormelnMichaela Bruckberger
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Fast die gesamte Naturwissenschaft basiert auf Differenzialrechnung. Für manche von ihnen gibt es einfache Lösungen, andere hingegen sind nach wie vor Gegenstand intensiver Forschung.

Als Isaac Newton gegen Ende des 17. Jahrhunderts seine berühmten Bewegungsgesetze aufstellte und damit eine wissenschaftliche Theorie schuf, die sich zweihundert Jahre halten sollte, griff er auf ein Konzept zurück, das er gerade erst selbst entwickelt hatte: Die Differenzialrechnung. Mit ihr gelang es ihm erstmals, zugleich mit Größen und deren Änderungsraten zu rechnen. Seine Konkurrenz zu Leibniz, der ebenfalls daran arbeitete, ist legendär, heute lernen wir diese Methoden in der Schule, aus gutem Grund: Fast die gesamte moderne Naturwissenschaft basiert auf der Differenzialrechnung, genauer gesagt, auf Differenzialgleichungen.

Das Newton'sche Gravitationsgesetz, die Maxwell-Gleichungen, die Schrödinger-Gleichung oder auch die Einstein'schen Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, alle gehören zu den Differenzialgleichungen. Für manche von ihnen gibt es einfache Lösungen, Probleme der Newton'schen Mechanik sind als Schulaufgaben beliebt (bei Lehrern, weniger bei Schülern), andere hingegen sind nach wie vor Gegenstand intensiver Forschung.

Wien im Fokus. Einer der internationalen Hotspots für Differenzialgleichungsforschung ist Wien. Mehr als ein Dutzend Professoren der Uni Wien und der TU Wien samt Forschernachwuchs bekommen nun ein gemeinsames Forschungszentrum, das Vienna Center for Partial Differential Equations. Man sieht sich im Wettbewerb mit Städten wie Paris, Berlin oder Zürich.

Differenzialgleichungen haben vielfältige Anwendungen in der Naturwissenschaft und tatsächlich gibt es Überschneidungen zur Arbeit von Physikern, Biochemikern oder auch Finanzmathematikern, wie Ansgar Jüngel, Sprecher des neuen Wiener Zentrums, erklärt: „Die Methoden ähneln einander sehr, allerdings ist unser Zugang abstrakter. Dadurch sind die Ergebnisse sehr allgemein und lassen sich auf sehr unterschiedliche Probleme anwenden.“

Konkret forscht man etwa an „Multiskalenproblemen“: Materialeigenschaften etwa werden stark von mikroskopischen Effekten auf molekularer Ebene, aber zugleich auch von makroskopischen Gegebenheiten beeinflusst. Die Herausforderung besteht darin, beides in eine Beschreibung zu fassen.

Weitere Forschungszweige sind Numerik, also das Lösen schwieriger Differenzialgleichungen am Computer, und Entropiemethoden, die von physikalischen Konzepten inspiriert sind: Das Konzept der Entropie (dessen physikalische Interpretation auf den Wiener Ludwig Boltzmann zurückgeht) ist eine mathematische Beschreibung des bekannten Effekts, dass Systeme immer zur größten Unordnung streben: Ein Schreibtisch räumt sich nicht von selbst auf, sondern wird immer noch unordentlicher, eine Tasse Tee kühlt aus und wird sich nie von selbst erwärmen. Die Entropie sagt also etwas über das Langzeitverhalten von Systemen, was sich auf die Lösungen von Differenzialgleichungen ummünzen lässt.

Wie sieht die Arbeit an Differenzialgleichungen konkret aus? Es gibt keine Labors, keine Experimente – wie darf man sich den Alltag vorstellen? „Wir sitzen viel zusammen“, erklärt Ansgar Jüngel, „wir diskutieren Probleme in kleinen Gruppen. Dazu kommt viel Zeit am Computer, und schließlich gibt es die Lehre und administrative Arbeit.“ Jüngel nennt die Lehre als besondere Motivation: Er selbst kam über einen motivierenden Lehrer in der Schule zur Mathematik und betont, wie wichtig es ist, Angst vor Mathematik abzubauen: „Ich hoffe, dass das Bewusstsein wächst, welch große Rolle Mathematik im Alltag spielt.“

Finanziert wird die Forschungsarbeit hauptsächlich vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF und über EU-Projekte. Geld aus der Wirtschaft gibt es kaum, dafür aber interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ingenieuren und Naturwissenschaftlern. Grundlagenforschung also – wie einst bei Isaac Newton.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2014)

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