Anthropologie: Modern werden? Verweiblichen!

(c) Robert Cieri - University of Utah
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Vor 70.000 Jahren entwickelten unsere Ahnen Technik und Kultur. Dazu mussten sie friedlicher miteinander umgehen, deshalb senkten sie ihren Testosteronspiegel.

Erfinderisch war die Menschheit schon immer, aber erst vor 70.000 Jahren ging es richtig los, da ritzten die Ahnen in Südafrika erstmals geometrische Muster in Ocker, produzierten also Kunstwerke mit symbolischem Gehalt, und nicht weit davon entfernt entwickelten sie einen Mehrkomponentenkleber – zum Befestigen von Pfeilspitzen –, der mit hoher pyrotechnischer Kunst zusammengekocht wurde.

Aber warum vor 70.000 Jahren? Homo sapiens entstand vor 150.000 bis 200.000 Jahren, die Anthropologie nennt ihn auch den „modernen Menschen“. Das bezieht sich auf seine Gestalt, die war graziler geworden. Aber modern im Geiste war er noch lange nicht, dazu musste er erst ein Stück weit von seiner Männlichkeit abrücken und verweiblichen, im Verhalten und im Gesicht. So vermutet es zumindest das „social tolerance model“, eine Hypothese, die von einer Gruppe um Robert Cieri (University of Utah) entwickelt wurde und bei der alles darum geht, dass die Menschen verträglicher werden mussten, als ihre Gruppen größer wurden und das Zusammenleben enger wurde.

Domestizierung senkt Männerhormon

Da mussten sie sich selbst domestizieren, so wie sie es später mit wilden Tieren taten, zuletzt experimentell mit Füchsen in Sibirien (falls Sie noch eine Sonntags-„Presse“ haben: Dort standen die Details). Diese Tiere waren nach wenigen Generationen zutraulich, und einer der Gründe dafür ist vermutlich das Sexualhormon, das Männer so männlich macht, und aggressiv: Testosteron. Dessen Gehalt im Blut wurde bei den Füchsen im Zug der Domestizierung geringer, auch die Zahl der Testosteron-Rezeptoren sank. Ganz Analoges weiß man von den beiden Schimpansen: Die, die auch „Schimpansen“ heißen (Pan troglodytes), sind untereinander und nach außen oft hoch aggressiv, ihre Testosteronspiegel sind hoch; bei den anderen, den Bonobos (Pan paniscus) sind sie niedrig, und sie steigen auch nicht beim Anblick von Futter, das teilen Bonobos bereitwillig – bei den Schimpansen ist das ganz anders –, sie kommen auch sonst gut miteinander aus, entspannen drohende Konflikte bevorzugt mit Sex.

Und die Menschen? Die haben vor 70.000 Jahren ihren Testosterongehalt zurückgefahren. Ja, woher will man das denn wissen? Testosteron beeinflusst nicht nur das Verhalten, sondern auch den Knochenbau, vor allem den des Gesichts. Das tut es hoch komplex und in zwei Phasen, zunächst im Uterus – dieser Schub wird, wenn er überhöht ist, mit Autismus in Verbindung gebracht, dem Mangel an Sozialbezug, er ist überwiegend eine Männerkrankheit –, dann noch einmal in der Pubertät. Aufsummiert bringt das dicke Augenwülste und ein in die Länge gezogenes Gesicht, bei beiden Geschlechtern, bei Männern viel stärker.

Also hat Cieri Schädel vermessen, insgesamt 1400, der älteste war über 200.000 Jahre alt, die jüngsten waren die von Zeitgenossen, von 30 Ethnien, darunter Jägern und Sammlern und Bauern. Dann hat er eine grobe Trennlinie eingezogen – vor etwa 80.000 Jahren, kurz vor dem Entwicklungsschub der Menschheit hin zur „Modernität des Verhaltens“ –, und die Physiognomien verglichen. Um diesen Zeitpunkt herum verweiblichten die Schädel, die Augenwülste wichen, die Gesichter wurden kürzer (Current Anthropology, 1.8.). Also war entweder das Testosteron weniger geworden oder die Zahl seiner Rezeptoren geringer, das weiß man nicht. Und wozu das Ganze? Vermutlich der höheren Populationsdichte wegen, darauf deutet auch hin, dass heutige Jäger und Sammler, sie leben in kleinen Gruppen, männlichere Gesichter haben als heutige Bauern, die in größeren sozialen Einheiten miteinander kooperieren (müssen). Und darauf deutet auch hin, dass vor 70.000 Jahren fürs Erste bald wieder Schluss war mit der Innovationskraft, erst vor 35.000 Jahren kehrte sie wieder, die Höhlenmalereien etwa bezeugen es. Die Menschheit hatte sich ausgedünnt, durch irgendwelche Umweltkatastrophen und erst langsam davon erholt und wieder zu der Kopfstärke gefunden, in der es für alle zum Vorteil wird, möglichst sorgsam mit den anderen umzugehen.

„Nach dem Beginn des modernen Verhaltens wurden die Gesichter femininer, und die Unterschiede zwischen den älteren und den jüngeren Fossilien gleichen denen von heutigen Menschen mit mehr oder weniger Testosteron“, schließt Cieri: „Als die prähistorischen Menschen begannen, enger zusammenzuleben, mussten sie mehr Toleranz füreinander entwickeln.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2014)

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