Rückevolution auf allen Vieren?

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Quadrupedale Menschen in der Türkei haben die Hoffnung geweckt, man könne an ihnen das Gen des aufrechten Ganges finden. Wohl eher nicht.

Irgendwo in der Türkei leben Menschen, die ausgerechnet das nicht können, worauf wir so stolz sind: aufrecht gehen. Stattdessen bewegen sie sich auf allen Vieren fort, in einer ganz eigenen Welt: „Sie haben eine eher primitive Sprache mit ein paar hundert Wörtern. Sie können nicht von eins bis zehn zählen. Sie haben kein Bewusstsein von Raum und Zeit, wissen nicht, wo sie leben und wann. Ansonsten haben sie kräftige Arme und Beine.“ So beschrieb sie der erste Forscher, der sie zu Gesicht bekam, Uner Tan von der Cukurova-Universität in Adana, er erwähnte auch, dass die „Quadrupedalen“ von ihren Dorfgemeinschaften verspottet werden und sich meist im Schutz ihrer Familien halten (man kennt vier Familien, von denen manche Mitglieder das Leiden haben).


Tan lachte nicht, er roch etwas, vermutete eine genetische Entwicklungsstörung und nannte sie – nach sich selbst, „Unertan-Syndrom“. Das publizierte er auch, in einer Zeitschrift, deren Mitherausgeber er ist (International Journal of Neuroscience). Aber so leicht macht ein Unbekannter aus der Türkei auf dem Weltwissenschaftsmarkt keine Karriere, auch nicht mit einer Sensation. Also lud Tan drei renommierte britische Kollegen zur Mitarbeit ein. Die kamen, rochen auch etwas – und booteten Tan aus: Sie kauften sich die Quadrupedalen, im Wortsinne: Laut Tan sicherten sie sich für 1000 Euro bar und neue Wasserleitungen in den Häusern die Exklusivrechte am Beforschen der Exoten, wohl auch am Vermarkten: Kurz darauf wurde der Fund in einer BBC-Dokumentation gezeigt.
Es gab viel böses Blut, Tan klagte bitter, türkische Kollegen taten es auch, vor allem der Genetiker Tayfun Ozcelik (Ankara), die Briten reagierten matt bis gar nicht. An diesem Fall kann man viel über die Usancen in der Wissenschaft lernen und über den aufrechten Gang im metaphorischen Sinn.

Seit 1,8 Mio. Jahren: Homo erectus


Auch über den wirklichen? Die türkischen Quadrupedalen könnten den Weg weisen zu dem Gen, mit dessen Hilfe unsere Ahnen sich vor 1,8 Millionen Jahren endgültig erhoben, zum Homo erectus. Das war Tans Sensation, er verkaufte sie unter dem Titel „Reverse Evolution“ oder auch „Devolution“. So etwas kennt man etwa von Fischen, die es irgendwann in Höhlen verschlagen hat und die bald ihr nun überflüssiges Augenlicht verloren. Als sie, Generationen später, wieder in lichteren Gewässer fanden, kam das Sehvermögen zurück. Vermutlich wurden „schlummernde“ Gene mobilisiert. Oder auch nicht, das Konzept der „reversen Evolution“ ist umstritten, es kann sich beim Augenaufschlagen der Höhlenfische auch um ganz normale Evolution handeln, Neuentwicklung. Zudem geht es bei „reverser Evolution“ um Anpassung an geänderte Umwelten, davon kann bei den Türken keine Rede sein. Tans „Devolution“ fand wenig Anklang.

Parallele zum Sprachgen Foxp2?


Natürlich könnte das Gen trotzdem etwas mit dem aufrechten Gang zu tun haben. Das Gen? Ein Gen? Das ist nicht ausgeschlossen, ein Gen kann Verhalten steuern, bei Fruchtfliegen etwa entscheidet eines über die sexuelle Orientierung, Barry Dickson vom Wiener IMP hat es gezeigt (Cell, 121, S. 795). Auch bei Menschen bzw. ihren zentralen Eigenschaften scheint es so etwas zu geben, Foxp2: Dieses Gen ist zuständig für das Sprechen – für Grammatik und Motorik –, Menschen mit einer Mutation bringen nur schwer verständliche Laute heraus.
Auch diese Mutationen fand man in einer Familie – ein Präzedenzfall für ein Bipedalismus-Gen? Tan/Ozcelik identifizierten zunächst Chromosom 9 als Sitz des von ihnen gesuchten Gens, dann auch dieses selbst: Es heißt VLDLR und ist für den „very low density lipoprotein receptor“ zuständig. Der gehört zu einer Signalkaskade, die bei der Entwicklung des Gehirns die Wanderung neuer Zellen in bestimmte Regionen steuert, in das Kleinhirn – zuständig für Bewegungen – und in die Großhirnrinde, sie spielt bei vielen höheren Funktionen wie Sprache und Gedächtnis mit. Das VLDLR-Gen ist ein alter Bekannter, man hat Mutationen bei Hutterern gefunden – Angehörigen einer Sekte, die in die USA auswanderte –, dort sind die Folgen so gravierend, dass Betroffene überhaupt nicht gehen können.


Aber bei Hutterern hat das Gen eine andere Mutation. Und die Türken bieten auch ein differenziertes Bild: Oczelik/Tan haben inzwischen die Gene in vier betroffenen Familien analysiert. In zweien haben sie Punktmutationen von VLDLR detektiert – aber an anderen Stellen im Gen –, in der dritten ist VLDR normal, hier scheint ein Gen auf einem anderen Chromosom Ursache zu sein. Bei der vierten hat sich noch überhaupt nichts gefunden: „Erbkrankheiten, die mit quadrupedalem Gang verbunden sind, sind genetisch heterogen“, heißt das bisher letzte Wort der Forscher, es wurde am Sonntag bei einer Konferenz in Barcelona vorgetragen, früher schon partiell publiziert (Pnas, 105, S. 4232).

Handfläche statt Handrücken


Heißt das im Umkehrschluss, dass VLDR zwar nicht alleine den aufrechten Gang macht, aber doch wenigstens mitwirkt? Eher nicht, die ganze Geschichte hat einen Haken: Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, setzten beim Gehen auf allen vieren ihre Hände mit dem Rücken nach unten auf die Erde; unsere Ahnen haben es höchstwahrscheinlich auch so getan. Aber die türkischen Quadrupedalen machen es ganz anders, sie gehen auf den Handflächen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2008)

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