Der Kampf um das Gedächtnis

Im Spätmittelalter wird die Schrift zum großen Wissensspeicher. Zugleich trainierte man explizit die eigene Gedächtnisleistung.

„Unsere moderne Gedächtniskapazität schrumpft, während das Mittelalter vollständig auf deren Möglichkeiten setzen konnte“, sagt Sabine Seelbach, Professorin für ältere deutsche Literatur und Sprache an der Universität Klagenfurt. Es erschienen massenhaft Texte, die die eigene Gedächtniskapazität stärkten. Gleichzeitig breitete sich die Schriftlichkeit explosionsartig aus: „Der Buchdruck ist praktisch erst die Antwort auf den gewachsenen Bedarf an Schriftlichkeit, denn das händische Kopieren reichte nicht mehr.“ Die Forschungsergebnisse zur mittelalterlichen Gedächtniskunst liegen in einem Sonderheft der Zeitschrift „Daphnis“ vor.

Die Schrift wurde im Spätmittelalter zum Massenspeicher von Wissen, und trat damit in Konkurrenz mit dem größten Datenträger der damaligen Zeit, dem menschlichen Gehirn. Die Menschen reagierten mit Gedächtnisübungen und wollten damit die eigene Hirnleistung gegenüber dem neuen Massenmedium Schrift verteidigen. Diese Kunst nannten sie Ars memorativa. Bereits seit der Antike gab es eine kritische Bewegung gegen Schriftlichkeit. Platon kritisierte den Erfinder der Schrift in seinem Werk „Phaidros“: Er habe eine Kunst erfunden, die Vergessenheit schaffe. „In dem Moment, in dem das vergessensfördernde Medium Schrift in der spätmittelalterlichen Welt Platz greift, wächst das Rettende, also die Gedächtniskunst, auch“, erklärt Seelbach. Die Menschen reagierten auf die mittelalterlichen Medienrevolution: „Sie wollten ihr Gedächtnis retten.“

Die angewandte Technik lässt sich mit dem gegenwärtigen Mind Mapping vergleichen. Es geht darum, ein Thema zu erschließen, indem man es visualisiert und ordnet. Die Struktur hilft dann beim Erinnern: „Nur, beim Mind Mapping hat man eine schriftliche Skizze. Die Ars memorativa arbeitet schriftlos“, betont Seelbach. Der Vergleich mit der Gegenwart ist aber besonders spannend, weil gerade eine neue Medienrevolution im Gang ist. Heute wird das Wissen vollständig in die digitale Welt ausgelagert. Seelbach sagt: „Alles, was ich dem Computer anvertraue, kann ich eigentlich vergessen“, aber damit „werden viele Fähigkeiten des menschlichen Gehirns abgeschwächt“.

Mit der Ars memorativa wehrte sich der Mensch gegen diese Abschwächung. Ob der moderne Mensch eine analoge Gegenkultur zur digitalen Revolution ausprägt, wie die spätmittelalterlichen Menschen gegen die Schrift, bleibt abzuwarten. (por)

Tipp: Sabine Seelbach und Rafał Wójciks: „Ars memorativa in Central Europe“ („Daphnis“, Bd. 41).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2015)

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