Wie die Zuckerindustrie in den USA die Politik manipulierte

(c) Michaela Bruckberger
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Ein Archivfund zeigt: Die Industrie verhinderte, dass die Politik im Kampf gegen die Karies auf weniger Zucker setzt.

Wenn eine mächtige Industrie ihre Interessen bedroht sieht, was tut sie dann? Beispielsweise das: 2003 wollte die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Verringerung des Zuckerkonsums empfehlen, nicht mehr als zehn Prozent der täglich aufgenommenen Kalorien sollte freier Zucker ausmachen, das ist der, der irgendwie hinzugefügt wird, nicht der in Obst. Dabei ging es vor allem um die „Epidemie der Fettleibigkeit“ (WHO) – in den USA hat die sich laut Militärärzten zu einer „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ ausgewachsen: Jeder Vierte, der zu den Soldaten will, ist zu dick –, es ging auch um das „metabolische Syndrom“, Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Aber bevor die WHO-Empfehlung kam, erhielt WHO-Chefin Gro Harlem Brundtland Post von der Sugar Association – in ihr ist die US-Zuckerindustrie organisiert –, auch Senatoren hatten unterzeichnet: Man werde „jeden möglichen Weg“ gegen die Empfehlungen einschlagen, auch den, im Parlament den Antrag einzubringen, „die künftige Finanzierung der WHO durch die USA in Höhe von 406 Millionen Dollar im Jahr infrage zu stellen.“ Die Empfehlung kam nicht, aber in der Öffentlichkeit hinterließ der Brief keinen guten Eindruck. Immerhin, er brachte zwölf Jahre Zeit- bzw. Profitgewinn: Anfang März hat die WHO die Zehn-Prozent-Empfehlung verlautbart, zudem erhofft sie sich von einer weiteren Halbierung – „unter fünf Prozent, das sind grob 25 Gramm (sechs Teelöffel)“ – „zusätzlichen Nutzen für die Gesundheit“.

Verflochtene Interessen

Zuvor kam wieder Post von der Sugar Association, an die neue WHO-Chefin, Margaret Chan. Diesmal wird nicht rüde gedroht, diesmal geht es milde um die wissenschaftlichen Grundlagen bzw. Zweifel an deren Validität. Damit knüpft die Zuckerindustrie an Praktiken an, mit denen sie in den USA seit Jahrzehnten gut gefahren ist, ein Fund in den Archiven der University of Illinois hat sie ans Licht gebracht, er ist Stanton Glantz (UC San Francisco) geglückt: 319 Dokumente der Zuckerindustrie aus den Jahren 1959 bis 1971, zusammengetragen vom längst verstorbenen Chemiker Roger Adams, der stand nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern war auch beim Forschungsinstitut der Zuckerindustrie, der Sugar Research Foundation (SRF).

Die wusste spätestens seit 1950, dass und wie steter Zucker Zähne höhlt: Er nährt Bakterien – vor allem Streptococcus mutans –, die bilden Plaque und scheiden Säure aus, die frisst sich in den Zahnschmelz. Das wussten natürlich auch die Gesundheitsbehörden. Und als US-Präsident Lyndon Johnson 1966 bei der seines Landes anfragte, welche Prioritäten die Gesundheitspolitik setzen soll, erhielt er die Antwort: „Ausrottung der Karies.“ Der Weg war naheliegend – weniger Zucker –, aber die Industrie war gut vorbereitet, inhaltlich wie personell. Schon 1950 hatte die SRF ihr „ultimatives Ziel“ festgeschrieben: „Zahnverfall durch andere Methoden als Verringerung der Zuckeraufnahme kontrollieren“. Zwei Alternativen kristallisierten sich heraus, verfolgt wurden sie im Project 269: Man experimentierte mit Enzymen gegen Plaquebildung (Dextranasen), man suchte einen Impfstoff. 1969 war klar, dass beides nicht weiterführte, auch die Pharmaindustrie sah das so und investierte selbst nichts.

Industrie schrieb Regierungsprogramm

Aber die Regierung sah es anders, ihr Blick wurde weitsichtig gelenkt: Die für die Zahngesundheit zuständige Behörde hatte eine Dental Caries Taskforce etabliert, die legte 1971 ihr Forschungsprogramm vor. Es war zu 78 Prozent identisch mit dem der SRF. Das war kein großes Wunder: Die Kommissionen der SRF und die der Regierung waren – mit einer Ausnahme – mit den gleichen Mitgliedern besetzt (PLoS Medicine, 10. 3.).

„Diese Taktiken waren eklatant ähnlich denen, die wir in der gleichen Zeit bei der Tabakindustrie fanden“, erklärt Glantz, der in den 1990er-Jahren der Tabakindustrie nachgegangen war. Aber die hat die Taktiken nicht erfunden, sie hat sie gelernt: Das Zuckerforschungsinstitut ist alt, es arbeitet seit 1943. 1954 zog die Tabakindustrie nach und engagierte den früheren Direktor des Zuckerinstituts: Dort „half er der Tabakindustrie, die zentralen Taktiken zur Manipulation der Wissenschaft von der Zuckerindustrie zu lernen“, schließen die Forscher.

Und wie ist das nun mit dem Zucker und der Gesundheit? Fest steht, dass es über den größten Teil der Menschheitsgeschichte kaum freien Zucker gab, allenfalls Honig, erst im 18. Jahrhundert kam er, pro Jahr und Kopf wurden zwei Kilo verbraucht. Heute sind es in Österreich 35 bis 38, in den USA fast doppelt so viel, weltweit hat sich der Absatz in den letzten 50 Jahren verdreifacht. Seit diesen 50 Jahren grassiert die Epidemie der Fettleibigkeit, und über die Hälfte der Kinder in den USA hat heute noch löchrige Zähne.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2015)

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