Wallfahrten: Wenn der Weg bedeutender als das Ziel ist

TMARIAZELL
TMARIAZELL(c) APA/HELMUT FOHRINGER (HELMUT FOHRINGER)
  • Drucken

Pilgerreisen erleben weltweit einen regelrechten Boom. Etwa 20 Millionen Menschen suchen jedes Jahr Santa María de Guadalupe auf, zwei Millionen Mekka, eine Million Mariazell.

Es geht um „eher unbestimmte Wünsche, um Sehnsüchte“, die bei den meisten Teilnehmern der Wanderungen im Vordergrund stehen. „Wir sind immer wieder auf die Suche nach Spiritualität, die Suche nach einer Gemeinschaft gestoßen“, sagt der Ethnologe Helmut Eberhart, der schon vor anderthalb Jahrzehnten die Motive bei den unzähligen Männern und Frauen, die sich auf Pilgerwallfahrten begeben, erforscht hat.

Mittlerweile hat Helmut Eberhart das sprunghaft gestiegene österreichische Pilgerwesen in den Fokus seiner Forschungstätigkeit gestellt. Der Professor am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Uni Graz spricht von einem regelrechten Boom, den das Wallfahrtswesen im vergangenen Jahrzehnt erfahren hat. Im Rahmen eines Projekts des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF stellte er fest, dass in der Steiermark nahezu alle Pfarrgemeinden auf Wallfahrtsaktivitäten verweisen können.

Routen wie ein Spinnennetz

Ebenso zugenommen hat die Anzahl der Wallfahrtswege. Neue Routen entstehen und werden beworben, sie ziehen sich wie ein Spinnennetz über Österreich und ganz Europa. Rund ein Dutzend Pilgerwege führen nach Mariazell, darunter auch zwei erst vor wenigen Jahren geschaffene grenzüberschreitende Routen von Slowenien in den obersteirischen Wallfahrtsort. Die Magna Mater Austriae in Mariazell war die Schutzpatronin der Habsburger und wird als Magna Hungarorum Domina auch von den ungarischen Katholiken verehrt. Im September 2013 stattete selbst der ungarische Staatspräsident János Áder Mariazell einen Besuch ab.

Wie bei einem Symposium 2013 in Marseille festgestellt wurde, ist das Pilgerwesen eine weltweite Erscheinung und in allen Religionen zu finden. Hatte etwa Martin Luther 1520 in seiner „Rede an den christlichen Adel“ noch die Wallfahrten als Sünde bezeichnet, so sind heute auch in Deutschland in vielen protestantischen Gemeinden Pilgerbüros eingerichtet.

Wobei es nicht immer um den Zielort geht. „Der Weg ist oft bedeutender als das Ziel“, sagt Eberhart. Der Weg, das heißt die Gemeinschaft, in der man sich im Zuge der Wallfahrt befindet. Es gibt natürlich weiterhin die einzelnen Pilger, der regelrechte Boom wurde aber durch die geplanten und geführten Pilgerreisen ausgelöst. Und auch die Touristik setzt voll und ganz auf derartige organisierte Fahrten. Wallfahrten zu bestimmten Anlässen – wie etwa die traditionellen Pestwallfahrten – kann Eberhart heute nur noch bei vielleicht zehn Prozent der Wanderungen ausmachen.

In Österreich dominiert der Wallfahrtsort Mariazell mit bis zu einer Million Besucher pro Jahr. Selbst Politiker nutzten medienwirksam das Zeichen, das von einer Wallfahrt ausgeht. Staatssekretärin Brigitte Ederer (SPÖ) löste 1994 nach der erfolgreichen EU-Abstimmung das Versprechen einer Fußwallfahrt nach Mariazell ein, und die ÖVP-Mitglieder der Bundesregierung unter Wolfgang Schüssel fanden sich Ende 2000 nach Beendigung der EU-Sanktionen zu einem Dankgottesdienst im steirischen Wallfahrtsort ein.

Heute sind Versprechen (wie bei der Politikerin Ederer) und Gelübde, die auf eine Pilgerreise hinzielen, kaum noch die Regel. Auch Esoteriker und Agnostiker sind, so Eberhart, in den Pilgergemeinschaften zu finden. Wichtig ist die temporäre Gemeinschaft in den von den Wallfahrern gebildeten Gruppen, die auch – vor allem bei älteren Menschen – mit dem Autobus das Ziel erreichen können. Nun spezialisieren sich auch zahlreiche Reiseveranstalter auf derartige Busreisen.

Kein Auftrag in der Bibel

Der Wiener Sozial- und Wirtschaftshistoriker Michael Mitterauer datiert die Entfaltung des christlichen Pilgerwesens in das Zeitalter von Kaiser Konstantin I. zu Beginn des vierten Jahrhunderts. Der römische Kaiser ließ die Grabeskirche in Jerusalem und die Geburtskirche in Bethlehem errichten. „Es gibt keinen expliziten Auftrag der Heiligen Schrift, bestimmte heilige Orte aufzusuchen“, sagt Mitterauer. Freilich gab es im heidnischen Umfeld der Antike verschiedene Kultformen und Rituale, die mit Wallfahrten zu heiligen Orten verbunden waren.

Jerusalem, der Berg Sinai, Rom und das jüngere Santiago de Compostela im nordspanischen Galicien waren die Zielorte in der großen Blütezeit des Pilgerwesens im Hoch- und Spätmittelalter. Schon damals wurden die „heiligen Wege“ für Fernpilgerfahrten ausgebaut, Brücken errichtet, Hospize angelegt. Pilgern galt als asketische Leistung, der sich Mitglieder aus allen Ständen unterzogen. Und oft war eine Verpflichtung zur Buße der Anlass. Auch die Teilnahme an manchen Kreuzzügen wurde als Pilgerreise verstanden, als Lohn für die Strapazen der Reise wurde die Vergebung von Sünden versprochen. Zudem gab es, wie Mitterauer feststellt, die Sonderform der strafweisen Pilgerfahrt, die von geistlichen, später auch von weltlichen Gerichten verhängt wurde.

Die Unterschiede zwischen dem Pilgerboom des Mittelalters und dem der Gegenwart liegen vor allem in der persönlichen Motivation. Der Historiker Mitterauer: „Den Pilgern des Mittelalters ging es um das Gebet am heiligen Ort, das für besonders wirksam gehalten wurde, um Buße für begangene Schuld und Nachlass von Sünden, letztlich vor allem um das Seelenheil.“ Die heutigen Wünsche, so sie formuliert werden, nehmen sich dagegen geradezu profan aus. Ethnologe Helmut Eberhart führt als Motive die Erfüllung eines Versprechens oder einer Wette an, weiters Konflikte in der Beziehung, eine bevorstehende Reise, gute Zeugnisse und natürlich die eigene Gesundheit.

Pilgern in Asien und Amerika

Das Pilgerwesen ist freilich nicht nur auf das Christentum beschränkt. Rund um den heiligen Kristallberg Kailash in Tibet sind die Pilger von gleich vier Religionen – Buddhismus, Hinduismus, Jainismus, Bön – 52 Kilometer und auf einer Höhe von bis zu 5600 Metern unterwegs, in Japan führt ein 1200 Kilometer langer Pilgerweg zu den 88 heiligen Orten der Insel Shikoku. Der Haddsch ist im Koran für jene Moslems, die es sich leisten können, als religiöse Pflicht vorgeschrieben und wird jährlich von mehr als zwei Millionen Moslems befolgt.

Das am häufigsten aufgesuchte Pilgerziel weltweit ist aber Santa María de Guadalupe in Mexiko, das seinen Ursprung in einer Marienerscheinung im Jahr 1531 hat. Die Basilika in einem Vorort von Mexiko-Stadt wird – die Quellen differieren hier – von bis zu 20 Millionen Christen pro Jahr besucht.

ZUR PERSON

Helmut Eberhart ist Professor am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie an der Karl-Franzens-Uni Graz. Neben den österreichischen Pilgerwegen erstreckt sich sein Forschungsgebiet auf das weltweite Wallfahrtswesen.

Michael Mitterauer ist emeritierter Universitätsprofessor (Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Uni Wien). 2014 verfasste er das Buch „St. Jakob und der Sternenweg. Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt“ (Böhlau).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.