Antisemitische Agitation: Der Schoß blieb lange fruchtbar

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Die nationalsozialistische Propaganda wirkte vor allem in Schulen und Jugendorganisationen, und zwar in Regionen, wo sie an schon bestehende Vorurteile anknüpfen konnten. Die Aufschaukelung hielt sich über Jahrzehnte.

Kann man Gehirne waschen, gar die ganzer Völker? Joseph Goebbels, der diabolische Meister des Genres, winkte ab: Selbst die dröhnendste oder auch raffinierteste Agitation könne nichts in Gehirne hineintrommeln, was dort nicht schon bereitliege, sie könne das nur aufnehmen und verstärken. Ist es so? Die Forschung ist uneins: Für die einen, Historiker vor allem, hat die Propaganda der Nazis den Boden bereitet; andere, Psychologen vor allem, sehen die Kraft der Indoktrination beschränkt. Nico Voigtländer (UC Los Angeles) und Hans-Joachim Voth (Uni Zürich) haben versucht, die Frage zu klären – an der zentralen Botschaft von Hitler, Goebbels und ihresgleichen, am Antisemitismus.

Diesen hat die Sozialforschung in Deutschland im Blick, und zwar im Rahmen der periodischen Deutschen Allgemeinen Bevölkerungsumfragen (Allbus). Sie legt etwa Folgendes zum Beurteilen vor: „Juden, die in Deutschland leben, sollten in jeder Hinsicht die gleichen Rechte haben wie Deutsche.“ Dagegen sprechen sich in Hamburg zehn Prozent aus, in Niederbayern 48 Prozent.

Ähnlich ist es bei Fragen danach, ob man Juden ungern in der Nachbarschaft hätte, oder in der Familie, oder ob die Juden an ihrer Verfolgung teilweise selbst Schuld trügen. Sieben Fragen gab es, beantwortet wurden sie auf einer siebenteiligen Skala. Insgesamt waren 17 Prozent der Deutschen mehr oder weniger der Meinung, die Juden seien selbst schuld an ihrem Schicksal, 25 Prozent fühlten sich unwohl bei der Vorstellung, dass Juden in die Familie einheiraten, 21 Prozent wollten Juden die gleichen Rechte verweigert sehen.

In der Kindheit eingelöffelt . . .

Wer in allen Punkten die Extremwerte sechs oder sieben ankreuzt, gilt für Voigtländer/Voth als harter Antisemit. Im Durchschnitt des ganzen Landes waren das in den Jahren 1996 und 2006 vier Prozent der Deutschen (bei weicherer Definition steigt der Wert auf 25 Prozent). Die Antworten sind stark an das Alter gebunden: Generell ist der Antisemitismus im Sinken begriffen, aber bei Geburtsjahrgängen der 1930er-Jahre liegt er doppelt so hoch wie im Durchschnitt, bei denen der 1920er-Jahre ist es auch so, allerdings nur bei den Frauen. Das mag daran liegen, dass die jungen Männer, die damals Antisemiten waren oder wurden, später in den Krieg gingen, und zwar nicht zur Wehrmacht, sondern in die Waffen-SS. Die hatte hohe Verluste.

Und wie wurden sie Antisemiten? Wie wurden es jene in den 1930er-Jahren, denen der Krieg erspart blieb? Durch die Schule und die Jugendorganisationen der Nazis, allein im Schulungshandbuch der Hitler-Jugend (HJ) waren 45 von 105 Seiten dem „Rassischen“ gewidmet. Die Goebbels'schen Wunderwaffen hingegen – Volksempfänger, „Wochenschau“ und Riefenstahl im Kino – blieben eher stumpf, sogar leicht kontraproduktiv. Voigtländer und Voth vermuten, dass dies daran lag, dass es Radios und Kinos eher in weltoffenen Großstädten gab.
Eher auf dem Land erfolgreich waren hingegen seit Ende des 19. Jahrhunderts Parteien mit antisemitischem Programm. Und wo die gewählt worden waren, fiel die NS-Agitation auf den fruchtbarsten Boden: „Der lange Arm der Vergangenheit ist deutlich sichtbar“, formulieren die Forscher, aber sie sehen nicht nur die Schatten der Vergangenheit.

. . . im Alter weitergereicht

Sie sehen auch nach vorn, einen „Echo-Effekt“: Wo die Nazi-Agitation bestehenden Antisemitismus hochgeschaukelt hatte, hielt er sich, bei den Jahrgängen 1955, 1956, 1975 (Pnas 15. 6.). Ihnen wurde er von den Älteren eingeimpft, auch wenn die bei Kriegsende selbst erst sechs Jahre alt waren. Die Indoktrination wirkte am stärksten bei den Jüngsten, ein HJ-Führer formulierte es hinterher so: „Wir schluckten die tägliche nationalistische Instruktion wie die tägliche Morgenmilch.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2015)

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