Vom „Negerdörfl“ zum sozialen Wohnbau

Sparkling Science. Schüler in Wien Ottakring erforschen ihre Umgebung, den „Hotspot für Zuwanderung“. In der raumwissenschaftlichen Studie vergleichen sie historische Quellen mit Zeitzeugenaussagen.

Die Stadt Wien erbaute im Jahr 1911 eine Notstandssiedlung in Ottakring. Die Wiener bezeichneten diese Baracken abwertend als „Negerdörfl“, aber auch viele Bewohner selbst nannten sie so. Die Siedlung beherbergte Zugereiste aus allen Teilen der Habsburgermonarchie. Afrikaner gab es im Dorf inmitten der Stadt keine: „Man weiß eigentlich nicht genau, woher die Bezeichnung kommt“, sagt Maria Mesner, Historikerin an der Universität Wien und Projektleiterin des Sparkling-Science-Projektes Melting Pot?!. Am ehesten handelt es sich dabei um den Wiener Dialektausdruck, bei dem „neger“ für „pleite sein“ oder „arm sein“ steht.

Schüler des Ottakringer Gymnasiums GRG Maroltingergasse beschäftigen sich in diesem Projekt, unterstützt vom Wissenschaftsministerium, mit ihrem unmittelbaren Bezirk. Dabei legen sie das Hauptaugenmerk auf soziale Bewegungen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Ottakring ist für diese Fragestellung ideal, denn dieser Bezirk „war und ist ein Hotspot für Zuwanderung und damit verbundenen sozialen Herausforderungen“, sagt Mesner. Die Schüler konzentrieren sich auf zwei spezifische Sozialeinrichtungen.

Zum einen auf das „Negerdörfl“, welches noch bis in die 1950er-Jahre existierte – erst dann errichtete die Stadt Wien auf den Barackengründen den Franz-Novy-Hof –, zum anderen auf die reformatorisch-bürgerliche Bewegung des Settlement. Hier engagierten sich hauptsächlich Frauen der Ober- und Mittelschicht. Sie versuchten über Bildungsmaßnahmen den Problemen der Industrialisierung und der Metropolenbildung zu begegnen. Das Settlement wurde bereits 1901 gegründet und bestand fast 100 Jahre lang.

Die Schüler bedienen sich raumwissenschaftlicher Forschungsmethoden: Das heißt, sie nehmen den Raum ihres Bezirkes nicht als gegeben an, sondern „erkennen, dass sich dieser durch gesellschaftlichen Wandel ständig verändert und bis heute – denkt man etwa an die Mariahilfer Straße – ein politisches Streitthema bleibt“, sagt Mesner.

Daher ist die Quellenkritik wichtig. Nicht immer stimmen Aussagen von Zeitzeugen mit den Textdokumenten in Archiven überein. Die Schüler müssen ihre gesammelten Materialien analysieren und interpretieren. Am Ende sollen sie schließlich eine öffentliche Ausstellung mitgestalten. (por)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2015)

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