Die Osmanen und der Balkan

Geschichte. Südosteuropa besteht aus Nationalstaaten, die im 19. Jahrhundert noch Teile von Großreichen waren. Das prägte diesen Raum.

Das Osmanische Reich bestand bis 1922. Es war jahrhundertelang die entscheidende Macht in Kleinasien, im Nahen Osten, in Südosteuropa, in Nordafrika und auf der Krim. In Westeuropa wurde – und wird – das Imperium gern mit der Türkei gleichgesetzt. Das greift aber viel zu kurz: Die Osmanen hinterließen in allen nationalen Nachfolgerstaaten deutliche Spuren.

Das gilt auch für den Balkan: „Wenn Studenten heute südosteuropäische Geschichte studieren, kommt das Osmanische Reich oftmals praktisch nicht vor“, sagt Michael Portmann vom Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademien der Wissenschaft (ÖAW). Portmann will diese Lücke mit seinem vom Österreichischen Wissenschaftsfond (FWF) geförderten Projekt „State-building Balkans“ schließen.

Er konzentriert sich dabei auf das 19. Jahrhundert, ein Zeitraum, in dem das Osmanische Reich ins Hintertreffen geriet und gleichzeitig die Idee des Nationalstaates geboren wurde. Portmann will herausfinden, wie diese Idee im südosteuropäischen Raum aufgenommen wurde, ob sozialstaatliche Errungenschaften wie der Bau von Spitälern, Straßen, Brücken, Universitäten und Schulen oder ein modernes Steuer-, Polizei- und Militärwesen bis in weite Teile der Bevölkerung vordrangen. Er vermutet, dass sich der moderne Nationalstaatsgedanke eher auf die städtischen Zentren, wie Sarajewo und Belgrad, beschränkte. Seine These ist, dass auf dem Land jahrhundertealte osmanische Traditionen fortlebten. „Wenn man heute durch Bergdörfer in Montenegro oder im Kosovo reist, dann gibt es immer noch Kinder, die nicht zur Schule gehen. Sie holt der Staat nicht ab, und im 19. Jahrhundert tat er das noch viel weniger“, sagt er.

Imperiale, nationale und lokale Quellen

Eine These will bekräftigt werden. Deshalb will Portmann Quellen über den Balkan auf vier verschiedenen Ebenen suchen und miteinander verweben. Erstens auf imperialer Ebene, das sind Texte vom Osmanischen Reich und vom Habsburgerreich, die in Wien und Istanbul liegen. Zweitens auf nationaler Ebene, also Schriften aus den Archiven Serbiens oder Bosniens. Drittens und viertens auf regionaler und lokaler Ebene in den Provinzen und Städten auf dem Balkan.

Portmann und sein Team hoffen „in die osmanische Welt einzutauchen“ und die oftmals nationale Sicht der Geschichte dieses Raumes aufzuweichen. „Teile des Balkans gehörten zum Osmanischen Reich wie Böhmen zum Habsburgerreich“, sagt er. (por)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)

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