Menschen im Winterschlaf

Evolution. Mediziner vermuten, dass die Herbst-Winter-Depression ein Überbleibsel aus Zeiten ist, als man den Winter schlafend überdauerte.

Wer sich jedes Jahr im Winter schlecht fühlt und depressive Stimmungslagen hat, will natürlich wissen, warum das so ist. Was ist schuld an der Herbst-Winter-Depression bzw. saisonal abhängigen Depression (SAD)? „Die Patienten kommen im Schnitt erst zehn Jahre nach dem ersten Auftreten der Symptome zu uns“, sagt Dietmar Winkler von der SAD-Ambulanz im AKH Wien. Davor liegen Jahre des Zweifelns, was man hat. Gibt es neue Erklärungen der Ursachen, hilft es den Patienten auch aus psychologischer Sicht. „Es ist ein menschliches Bedürfnis, für den aktuellen Zustand eine Erklärung zu suchen“, sagt Winkler. Sein Team überprüft derzeit in einer Studie Erklärungsmodelle zur SAD (siehe Beitrag oben).

Eine evolutionäre Erklärung, warum zwei Prozent der Menschen von Herbst-Winter-Depression betroffen sind, führt in frühere Kulturen vor zig tausend Jahren. „Es könnte ein Überbleibsel aus einer Zeit sein, in der es sinnvoll war, die kalte und dunkle Jahreszeit zu verschlafen“, sagt Winkler. Eine Art Winterschlaf der frühen Menschen.

Zwei bis drei Stunden mehr Schlaf

„Bei nicht saisonal abhängiger Depression ist Insomnie ein häufiges Symptom, also Ein- und Durchschlafstörungen. Bei der Herbst-Winter-Depression schlafen die Mehrzahl der Patienten zwei bis drei Stunden pro Nacht länger und sind tagsüber immer müde. Zusätzlich essen sie viel und nehmen an Gewicht zu“, erzählt Winkler. Dies lässt vermuten, dass sich frühere Kulturen im Herbst, wenn Nahrung im Übermaß vorhanden war, einen Winterspeck angegessen haben: vor allem süße und fette Nahrung, um mit dem Speckpolster die kalte Zeit ruhend oder schlafend zu überdauern.

„Experimente mit sibirischen Hamstern, die ausgedehnten Winterschlaf halten, zeigten inzwischen, dass bei ihnen wahrscheinlich auch das Enzymsystem der Monoaminoxidase im Gehirn verändert ist. Ähnlich wie wir es bei Menschen mit Herbst-Winter-Depression vermuten“, sagt Winkler.

„Die Evolution ist eine schöne Erklärung“, findet er. „Aber das hilft dem Patienten nicht.“ Im Gespräch mit den Betroffenen stößt die Winterschlaftheorie zwar auf Interesse, doch was bringt sie im Alltag? „Dann höre ich als Antwort: ,Schön, dass es evolutionär bedingt ist. Aber ich muss trotzdem meine Kinder in der Früh in die Schule bringen und zur Arbeit gehen.‘“ Daher sind die Mediziner weiterhin auf der Suche nach Erklärungen, die in Zukunft vor allem die Therapie der SAD verbessern sollen. (vers)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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