Mathematik: Eine offene Lücke in der Physik

"Stylised Lithium Atom". Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
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Aus der quantenmechanischen Beschreibung eines Systems kann man weniger schließen, als man bisher dachte.

So viele Atome, so viele Elektronen, das Gitter schwingt wild: In der Physik der Festkörper ist alles sehr kompliziert. Zu ihren intuitivsten – und populärsten – Konzepten zählt das Bändermodell: Die Elektronen eines Festkörpers sind in Energiebändern daheim, das Valenzband ist vollständig mit Elektronen besetzt, das Leitungsband nicht. Dazwischen ist bei Nichtleitern eine Bandlücke (auf Englisch: gap), bei Leitern keine, bei Halbleitern eine kleine. Exakter mathematisch zu definieren ist das spectral gap: als Energiedifferenz zwischen dem Grundzustand und dem ersten angeregten Zustand eines Elektrons.

Kann man, wenn man die mikroskopische Struktur eines Systems mit vielen Elektronen kennt und die einschlägigen quantenmechanischen Rechenmethoden beherrscht, vorhersagen, ob es eine solche Energielücke hat oder nicht? Ja, würden wohl die meisten Festkörperphysiker sagen. Doch Mathematiker um Toby Cubitt (Cambridge) und Michael Wolf (München) zeigten in Nature (9. 12.): Man kann es nicht, und zwar grundsätzlich nicht. „Es ist ein unentscheidbares Problem“, sagt Cubitt. „Das heißt, dass eine allgemeine Methode nicht existieren kann, mit der man bestimmen kann, ob Materie, die von der Quantenmechanik beschrieben wird, eine spektrale Lücke hat oder nicht.“

Unentscheidbare Probleme kennt man aus den ganz abstrakten Regionen der Mathematik, etwa von Kurt Gödel, der nachwies, dass es in formalen Systemen wie der Arithmetik Aussagen geben muss, die man formal weder beweisen noch widerlegen kann. „Niemand hat sich bisher ernsthaft überlegt, dass es so etwas auch im Herzen der theoretischen Physik geben könnte“, sagt Wolf: „Unsere Ergebnisse ändern dieses Bild.“

Millennium-Problem unlösbar?

Eine spektrale Lücke spielt auch im Herzen der Teilchenphysik eine Rolle: in der Yang-Mills-Theorie, die die starke und die schwache Kraft beschreibt. Zu zeigen, dass in ihr eine solche Lücke existiert, ist sogar Teil eines der sieben Millennium-Probleme der Mathematik, für deren Klärung das Clay Mathematics Institute im Jahr 2000 je eine Million Dollar ausgelobt hat.

Heißt das, dass niemand die Million bekommen kann? Nicht unbedingt, erklärt Cubitt: „Es ist möglich, dass besondere Fälle eines Problems lösbar sind, auch wenn das allgemeine Problem unentscheidbar ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2015)

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